Je schrecklicher der Anblick, desto schwerer fällt das Wegschauen: «Get Out»-Regisseur und -Drehbuchautor Jordan Peele hat mit «Nope» einen grossartigen Science-Fiction-Horrorfilm über Bildkultur und Spektakelsucht gedreht.
Zu den grössten Freuden im aktuellen amerikanischen Kinogeschehen gehört, Jordan Peele dabei zu beobachten, wie er sich, Film für Film, zu einem der besten US-Filmemacher der Gegenwart mausert. Mit seinem Debüt, dem satirischen Horrorfilm «Get Out», legte der gelernte Komiker 2017 ein definierendes Werk über Rassismus im Zeitalter von Black Lives Matter, Barack Obama und Donald Trump vor und wurde dafür prompt mit einem Drehbuch-Oscar belohnt.
Doch anstatt sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen – sprich: der relativ simplen Metaphorik von «Get Out» treu zu bleiben –, schlug Peele in seiner zweiten Regiearbeit einen nicht unriskanten Haken: Der unheimliche Doppelgänger-Grusler «Us» (2019) hatte zwar ebenso gesellschaftskritische Ambitionen wie sein Vorgänger, doch erwiesen sich diese als weitaus abstrakter, thematisch weniger leicht fassbar, bisweilen sogar widersprüchlich. Wo «Get Out» seine politische Relevanz dem Publikum quasi pfannenfertig serviert, schreit der nicht minder unterhaltsame und zugängliche «Us» förmlich nach Diskussion und Interpretation.
Und wie Peeles neuester Film, die sommerliche Science-Fiction-Horrorkiste «Nope», zeigt, ist er noch lange nicht fertig damit, sein erzählerisches, stilistisches und metaphorisches Repertoire zu verfeinern – geschweige denn damit, die finsteren Abgründe der amerikanischen Kultur auszuloten.
Als Ausgangspunkt dazu dient ihm hier, wie schon in «Get Out» und «Us», eine Rückbesinnung auf die B-Movie-Unterhaltung der Fünfzigerjahre. Nachdem er sich in seinen ersten beiden Filmen konzeptuell von ikonischen Werken wie «Invasion of the Body Snatchers» (1956) und «The Twilight Zone» (1959–1964) inspirieren liess, widmet er sich in «Nope» dem vielleicht berühmtesten Genre-Versatzstück aus dieser Zeit: der fliegenden Untertasse.
Eine solche scheint nämlich Otis (Daniel Kaluuya) und seine Schwester Em (Keke Palmer) auf ihrer abgelegenen Ranch im kalifornischen Hinterland heimzusuchen. Und auch sonst haben es die beiden ungleichen Haywood-Geschwister nicht leicht: Vor einigen Monaten ist ihr Vater (Keith David) unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen, das Familiengeschäft – das Trainieren von Pferden für ihre Einsätze auf den Filmsets von Hollywood – läuft nicht besonders gut; und der einstige Kinderstar Ricky «Jupe» Park (Steven Yeun), der am anderen Ende des Tals eine Western-Touristenfalle betreibt, ist äusserst interessiert daran, den Haywoods so viele Pferde wie möglich abzukaufen. Es scheint, als bliebe OJ und Em nur eine Möglichkeit, finanziell zu überleben und die Ranch behalten zu können: Sie fassen den Plan, das UFO zu filmen und die Aufnahmen gewinnbringend zu verkaufen.
«Sind diese einführenden Worte an die Abertausenden von anonymen Hollywood-Handwerker*innen wie OJ und Em gerichtet, die von den mächtigen Vertreter*innen ihrer Branche wie Fussabtreter behandelt werden, obwohl ohne sie keine einzige Szene im Kasten landen könnte?»
«I will cast abominable filth upon you, make you vile and make you a spectacle», heisst es am Anfang von «Nope». Der Satz stammt aus dem Alten Testament, genauer gesagt aus dem Buch des Propheten Nahum, bezieht sich auf den prophezeihten Untergang der Stadt Ninive und kann im Kontext des Films auf verschiedene Arten gelesen werden: Ist damit das UFO gemeint, das die Protagonist*innen terrorisiert und in ihnen den Wunsch weckt, berühmt zu werden? Schleudert Peele das Geleitzitat dem ruchlosen Hollywood-System entgegen, als wäre er Nahum und die Traumfabrik das sündige, der Verdammnis geweihte Ninive?
Oder ist es etwa das Showgeschäft – oder die sensationsgierige Kultur, die es am Leben hält –, das hier spricht? Sind diese einführenden Worte an die Abertausenden von anonymen Hollywood-Handwerker*innen wie OJ und Em gerichtet, die von den mächtigen Vertreter*innen ihrer Branche wie Fussabtreter behandelt werden, obwohl ohne sie keine einzige Szene im Kasten landen könnte? An Afroamerikaner*innen wie die beiden Hauptfiguren – oder Jordan Peele selbst –, von denen erwartet wird, dass sie ihre Erfahrungen mit Rassismus und Diskriminierung zu publikumswirksamer Unterhaltung verarbeiten? An Menschen wie Jupe Park, dem Traumatisches widerfahren ist und dessen Schlussfolgerung nach einer Kindheit im Rampenlicht war, dass der einzige valable Umgang mit seinen verstörenden Erinnerungen ist, fröhlich witzelnd Profit daraus zu schlagen?
Eine abschliessende Antwort auf solche Fragen finden zu wollen, das hat bereits «Us» gezeigt, ist nicht nur zwecklos, sondern verschliesst sich auch der faszinierenden Mehrdeutigkeit von Peeles Kino. «Nope» ist ein Film über die Hollywood-Maschinerie und die von ihr produzierten und inspirierten audiovisuellen Spektakel, über die obsessive kollektive Schaulust, ja den fast schon krankhaften Schauzwang, der sich aus diesen Spektakeln speist – und die Industrie dahinter zu immer neuen Formen der unterhaltungsorientierten Ausbeutung ermutigt: Tragödien und Katastrophen generieren Bilder, Bilder generieren Spektakel, Spektakel generieren Tragödien und Katastrophen. Doch Peele leitet daraus keine allumfassende, fein säuberlich verpackte These ab; er belässt es beim Abklopfen dieses grundlegenden Aspekts der amerikanischen Kultur. «Nope» ist der Anfang, nicht das Ende der Auseinandersetzung.
«Tragödien und Katastrophen generieren Bilder, Bilder generieren Spektakel, Spektakel generieren Tragödien und Katastrophen.»
Und weil man es hier mit Jordan Peele zu tun hat, ist der Film, der um die Erkundung dieses thematischen Hintergrundrauschens herumgebaut ist, gleich selber eines dieser grossen Hollywood-Spektakel. «Nope» positioniert sich nicht als «erleuchtetes» Werk, das über den vampirischen Entertainment-Industrie-Strukturen, die es kritisch beleuchtet, steht, sondern versteht sich selber als Erbe des grossen populistischen US-Sommer-Blockbusters Marke Steven Spielberg: Das UFO folgt den Grusel-Gesetzmässigkeiten von «Jaws» (1975) – je weniger man die Bedrohung sieht, desto beängstigender wirkt sie –, die Alien-Thematik orientiert sich an der existenziellen Unruhe von «Close Encounters of the Third Kind» (1977), Unterhaltungswert und düsterer Subtext koexistieren in prächtiger Harmonie.
Man kann dem Film allenfalls den Vorwurf machen, dass er diesen Bezug während seiner grossen Actionklimax ein wenig zu nachdrücklich sucht und damit die anregend rätselhafte, wunderbar unheimliche Stimmung der ersten 100 Minuten etwas zu leichtfertig preisgibt. Gleichzeitig erweist sich Peele auch in diesen Passagen, welche veranschaulichen, wie stark sein Budget seit «Us» gewachsen ist, als herausragender Bildgestalter, der selbst einem so abgedroschenen Popkultur-Gemeinplatz wie einer fliegenden Untertasse etwas Atemberaubendes abgewinnen kann.
Doch das ist nur der – im besten Sinne – effekthascherische Höhepunkt einer ganzen Reihe unvergesslicher Momente, die Peele in «Nope» heraufbeschwört: Zuvor lässt er Kameramann Hoyte van Hoytema («Dunkirk», «Tenet») eine ebenso erschütternde wie schwarzhumorige Rückblende auf ein Neunzigerjahre-Sitcom-Set mit gnadenloser Sachlichkeit einfangen. Anderswo hört OJ geisterhafte Schreie in der Nacht; ein biblischer Blutregen ergiesst sich über die Haywood-Ranch; eine Menschenansammlung blickt wie ferngesteuert gen Himnmel. Die rundum unblutige Szene, in der raffiniert zusammengeschnittene Aufnahmen vom Innern einer Gummiröhre furchterregenden Body-Horror suggerieren, ist ein besonders eindrücklicher Beleg dafür, dass Peele inzwischen mit allen filmemacherischen Wassern gewaschen ist.
«‹Nope› ist ein Film über und für eine Welt, die sich immer mehr wie eine nicht enden wollende Flut von Schreckensbildern und -visionen anfühlt.»
«Nope» ist ein Film über und für eine Welt, die sich immer mehr wie eine nicht enden wollende Flut von Schreckensbildern und -visionen anfühlt. Doch während andere Regisseur*innen aus einer derartigen Affiche wohl einen mürrischen, eindimensionalen Thesenfilm gemacht hätten, verarbeitet Peele hochgradig relevante, durchaus tiefgreifende Gedanken über die zeitgenössische Sensationskultur zu einem mitreissenden, herausfordernden Genrestück – und bestätigt den Eindruck, dass er im Moment der unangefochtene Meister des amerikanischen Unterhaltungskinos ist.
Über «Nope» wird auch in Folge 48 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 11.8.2022
Filmfakten: «Nope» / Regie: Jordan Peele / Mit: Daniel Kaluuya, Keke Palmer, Steven Yeun, Brandon Perea, Michael Wincott, Keith David, Terry Notary / USA / 130 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © 2022 Universal Studios. All Rights Reserved.
Jordan Peele zeigt einmal mehr seine Klasse: «Nope» ist ein unterhaltsamer, thematisch anspruchsvoller Grusel-Blockbuster über den vertrackten Akt des Zuschauens – und über UFOs.
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