Früher oder später kommt alles ans Licht – selbst wenn ein ganzes Dorf versucht, die dunklen Geheimnisse unter den Teppich zu kehren. Rungano Nyonis «On Becoming a Guinea Fowl» beleuchtet eine mehrtägige Beerdigungszeremonie in einem sambischen Dorf und stellt sich der schwierigen Frage, ob ein schlechter Mensch trotz seiner grausamen Taten Trauer und Tränen verdient. Erzählt aus dem Blickwinkel einer Gruppe junger Frauen und angereichert mit surrealen, märchenhaften Bildern, gleicht das Filmerlebnis einem bedrückenden Traum über kulturellen Chauvinismus, der die drastischen Auswirkungen von patriarchalen und erzkonservativen Sitten zeigt.
Dass es die 95 Minuten von «On Becoming a Guinea Fowl» in sich haben, kündigt sich schon bei der absurden Eröffnungsszene an: Mitten in der Nacht, auf dem Heimweg von einer Kostümparty (Shoutout an alle, welche die Referenz erkennen), entdeckt Shula (Susan Chardy) den leblosen Körper ihres Onkels Fred (Roy Chisha) am Rande einer abgelegenen Strasse. In überraschend emotionsloser und gefasster Manier zückt sie das Handy und ruft die Polizei, bevor ihre betrunkene Cousine Nsansa (Elizabeth Chisela) dazustösst und sich spontan zu einem Tänzchen unter den Sternen hinreissen lässt. Shulas scheinbare Gefühlskälte hat jedoch einen guten Grund: Denn während um sie und Nsansa herum die aufwendigen Beerdigungsfeierlichkeiten beginnen, kommen immer mehr düstere Details ans Licht und stellen eine ganze Gemeinde auf die Probe.
Mit «On Becoming a Guinea Fowl» knüpft die sambisch-walisische Filmemacherin Rungano Nyoni nahtlos an ihren gefeierten Erstling «I Am Not a Witch» (2017) an – nicht nur, weil die Geschichte wieder in ihrer Heimat Sambia spielt und die Protagonistin erneut den Namen Shula trägt, sondern vor allem, weil es sich um eine kritische und feministische Auseinandersetzung mit Tradition und Gleichberechtigung handelt.
Wie bei einer Reise in unbekanntes Gebiet taucht das Publikum kopfüber ein in die sambische Bemba-Kultur, die mit 40 Prozent den grössten Anteil der Landesbevölkerung ausmacht, und erlebt diese von all ihren Seiten. Das gilt für die farbenfrohen und festlichen Facetten, aber eben auch für die brutalen, erbarmungslosen und misogyn geprägten.

Susan Chardy in «On Becoming a Guinea Fowl» / © trigon-film
Entsprechend ist das Miterleben dieser Beerdigungszeremonie alles andere als einfach. Es tut weh und sorgt für Kopfschütteln, wenn die Witwe von ihren «Aunties» wegen fehlender Tränen in die Enge getrieben wird. Der Frust wächst, wenn die Frauen ein üppiges Festmahl zubereiten müssen – nur um es den Männern auf den Knien robbend zu servieren.
Hier schlägt Nyoni mit der Protagonistin Shula eine clevere Brücke zwischen Tradition und stiller Rebellion. Susan Chardy verkörpert ihre erste grosse Rolle mit beeindruckender Zurückhaltung. Ihre Mimik spricht Bände, Worte sind kaum nötig. Statt als klassische Heldin gibt sie sich als stille Beobachterin, die festgefahrene Bräuche hinterfragt und sich dabei immer tiefer in ein Netz aus Schmerz und Verdrängung verstrickt.
«Die Protagonistin Shula schlägt eine clevere Brücke zwischen Tradition und stiller Rebellion, die Susan Chardy mit beeindruckender Zurückhaltung verkörpert.»
Denn über allem liegt eine schwere, verstörende Wahrheit – und das ist weniger ein Spoiler als eine notwendige Triggerwarnung: Es geht um den sexuellen Missbrauch von jungen Frauen. Damit hängt auch der Filmtitel «On Becoming a Guinea Fowl» (zu Deutsch: «Wie man ein Perlhuhn wird») zusammen: Perlhühner alarmieren ihr Umfeld bei einer potenziellen Bedrohung durch laute, durchdringende Schreie – was leider ein perfektes Sinnbild für das (Über-)Leben der Protagonistinnen ist. Schaut eine ganze Gemeinde weg, bleibt nicht mehr viel übrig als der Zusammenhalt. Öffentlich über das kollektive Trauma sprechen? Ein No-Go. Zu gross ist die eigene Scham, zu überfordert die Familie. Alkohol und ein überspieltes Lächeln scheinen die effektivste Lösung zu sein. Und wenn der Täter unter der Erde liegt, wird es erst recht schwierig. Immerhin gehört es sich ja nicht, schlecht über Tote zu sprechen. Erst recht nicht, wenn es sich um einen hochangesehenen Mann handelt.

Elizabeth Chisela in «On Becoming a Guinea Fowl» / © trigon-film
Als Kontrast zu dieser schweren Thematik setzt Nyoni in Sachen Ästhetik auf ihre unverkennbare Handschrift, die ihr bereits renommierte Preise wie den BAFTA Award («The List») oder das Golden Eye beim Zurich Film Festival («On Becoming a Guinea Fowl») eingebracht hat. David Gallegos Kamera verweilt oft lange auf Gesichtern, lässt Blicke und stumme Mimik für sich sprechen. Das raffinierte Spiel mit Licht und Schatten verstärkt das Gefühl der Beklemmung. Auf erdige und warme Farbtöne folgen surreale Sequenzen und inhaltlich bizarre Dialoge, die den Eindruck eines endlosen Fiebertraums erwecken.
«Auf erdige und warme Farbtöne folgen surreale Sequenzen und bizarre Dialoge, die den Eindruck eines endlosen Fiebertraums erwecken.»
Das verleiht dem Film nicht nur einen eigenen Charakter, sondern auch eine enorme Wucht. «On Becoming a Guinea Fowl» sagt sehr viel aus, obwohl sich die Anzahl der gesprochenen Wörter auf ein Minimum beschränkt. Das liegt nicht zuletzt an der grossartigen Besetzung und Nyonis ausgeklügeltem Drehbuch. Es braucht Talent und Fingerspitzengefühl, um einer Thematik wie dieser derart viel Raum zu geben, ohne sie wirklich anzusprechen oder zu zeigen. Stattdessen brodelt sie während des ganzen Films wie eine dunkle Wolke über dem sambischen Dorf und kündigt stürmische Zeiten an.
Apropos brodeln: Wer sich für den Gang ins Kino entscheidet, sollte im Voraus zwei wichtige Dinge wissen. Erstens wird der Film häufig als Tragikomödie definiert, was nur bedingt passt. Spass oder Freude bereitet der anspruchsvolle Inhalt nicht; «Komödie» ist also das falsche Wort. Kommt es vereinzelt zu Schmunzlern, dann nur wegen der derben Sprüchen der überspitzt gezeichneten Figur Nsansa. Zweitens ist es eine mutige (und durchaus heikle) Entscheidung, den Film ohne jegliche Hintergrundinformationen zu zeigen. Denn ohne differenzierte Einordnung besteht die Gefahr von klischiertem Denken und rassistischen Tendenzen. Darum ist es wichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass Ryonis Film nicht die Realität von ganz Sambia – und erst recht nicht die von ganz Afrika – abbildet.

© trigon-film
«‹On Becoming a Guinea Fowl› ist ein einzigartiges und aufregendes Projekt, das aufrüttelt und nicht mit einfachen Antworten aufwartet.»
«On Becoming a Guinea Fowl» ist ein einzigartiges und aufregendes Projekt, das aufrüttelt und nicht mit einfachen Antworten aufwartet. Stattdessen zwingt es sein Publikum, sich selbst viele unbequeme Fragen zu stellen: Wie geht man mit Verbrechen innerhalb der eigenen Familie um? Kann es Gerechtigkeit geben, wenn Traditionen über moralischen Grundsätzen stehen? Und ist Vergebung bei solchen Gräueltaten überhaupt möglich? Was bleibt, ist ein Film, der weit über das Kino hinaus nachhallt. Er ist eine schonungslose Reflexion über Schweigen und Schuld, über Schmerz und Widerstand – und über eine Diskussion, die längst überfällig ist.
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Kinostart Deutschschweiz: 13.2.2025
Filmfakten:«On Becoming a Guinea Fowl» / Regie: Rungano Nyoni / Mit: Susan Chardy, Elizabeth Chisela, Henry B.J. Phiri, Roy Chisha, Blessings Bhamjee / Irland, Grossbritannien, USA, Sambia / 95 Minuten
Bild- und Trailerquelle: trigon-film
Rungano Nyoni bringt mit «On Becoming a Guinea Fowl» frischen Wind in die Kinos und macht auf alarmierende Weise sichtbar, wie zerstörerisch die Macht des Schweigens sein kann.
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