Wir haben es geschafft: Die Durststrecke findet nach zwölf Wochen der verriegelten Kinos ihr Ende. Während die Ticketsysteme hochgefahren, die Popcornmaschine abgestaubt und die Säle wieder auf Hochglanz gebracht werden, sind grosse Filmfestivals im Sommer jedoch immer noch untersagt. Wir werfen einen Blick zurück auf die Online-Editionen verschiedener Filmfestivals des Frühjahres, welche die abgesagten Festivals ersetzten und uns die neuesten Filme im Internet präsentierten.
Die Umstände, in denen wir uns in den letzten Wochen befanden, müssen nicht gross umschrieben werden. Langsam haben wir uns damit abgefunden, dass Auslandreisen abgesagt werden müssen; die zwei Meter Abstand zu Anderen und das Tragen einer Maske sind längst in unseren alltäglichen Verhaltensguide integriert. Um zahlreiche abgesagte Filmfestivals zu trauern, scheint bei Betrachtung der globalen Situation vielleicht etwas versnobbt; doch für die Filmindustrie bedeuten die abgesagten Festivals in Cannes, Locarno und weiteren internationalen Destinationen Tragödien, die ihresgleichen in Filmplots suchen.
Doch in der Festivallandschaft herrschte keine Flaute. Ganz der heutigen Gesellschaft entsprechend, immer möglichst viel zu tun und ja nichts zu verpassen, schalteten zahlreiche Filmfestivals Teile ihres Programms online. Die Schweizer Jugendfilmtage stellten einen Grossteil des Programms live ins Netz, das SXSW sorgte für ein Online-Short-Programm, das zeitunabhängig abrufbar war.
«Nie war es einfacher, ohne Jetlag von einem Festival zum anderen über den gesamten Globus zu hopsen. Das Geld, das für Flugticket und Unterkunft eingespart wurde, konnte somit gleich an das Festival gespendet werden.»
Den Vogel des Online-Festival-Schwarms abgeschossen aber hat das We Are One: A Global Film Festival. Aufgrund der Corona-Krise ins Leben gerufen, versammelten 21 Filmfestivals von Venedig über Cannes, Berlin, London, New York, Karlovy Vary bis zu Guadalajara, Annecy und Tokio zahlreiche Kurz- und Langspielfilme, Panels und VR-Experiences zu einem riesigen Filmfestival, auf das gratis auf YouTube zugänglich war. Diesen Vorteil muss man den Online-Festivals überlassen: Nie war es einfacher, ohne Jetlag von einem Festival zum anderen über den gesamten Globus zu hopsen. Das Geld, das für Flugticket und Unterkunft eingespart wurde, konnte somit gleich an das Festival gespendet werden.
Lieblingsfilme in Endlosschlaufe
Ein weiteres Plus der Online-Festivals ist die Replay-Taste des eigenen Laptops. Wenn der Zeitplan selbst eingeteilt wird, kann ein Film nicht nur unterbrochen, sondern auch gleich in Dauerschleife gespielt werden. Und welcher Festivalgänger kennt das nicht: Eben hat man einen supertollen Film gesehen und würde ihn am liebsten noch zigmal anschauen, doch das Screening ist zu Ende, und bei der einzigen nächsten Vorstellung des neuen Lieblings laufen gleichzeitig mindestens zwei weitere Filme, die man sich auch noch anschauen wollte.
Den Drang, auf Replay zu drücken, ereilt mich bei dem wunderschön animierten Short «Mémorable» von Bruno Collet, der beim Vienna Shorts Film Festival im Sonderprogramm lief. Der oscarnominierte Kurzfilm schafft es, in zehn Minuten eine herzzerreissende Geschichte des Verlusts des eigenen Gedächtnisses so originell zu erzählen, dass mein Finger praktisch an der Replay-Taste anwächst und jedes Mal nach dem Abspann wild auf diese hämmert. Die Geschichte des alternden Malers, der langsam in seiner Amnesie zerfällt, ist erzähltechnisch und stilistisch vielfältig und ausgefeilt und lässt den Titel für sich sprechen. Die rund zehnminütige Animation macht mit seinen Knetfigürchen gar Michael Hanekes «Amour» Konkurrenz.
Doch irgendwann drückt die Zeit, und man merkt, dass es ein Irrglaube ist, alle Filme in seinen persönlichen Schedule quetschen zu können. Home-Office, Haushalt und das Ausleben der im Lockdown erworbenen Backkenntnisse lenken vom Filmmarathon ab, und auch wenn man nur beschränkt aus dem Haus kann, tickt auch im Jahr 2020 die Uhr nicht langsamer als zuvor im hektischen Alltag. (Welch Weisheit aus meinen Fingern sprudelt!)
Weltbühne frei für ZHdK-Abschlussfilm
Diese tickende Uhr ist auch der grösste Feind der Jungköchin Jeanne (Jeanne Werner) in David Oeschs Short «Cru». Die ZHdK-Abschlussarbeit von David, den ich zu meinen Freunden zählen darf, hat am Tribeca bereits den Student Visionary Award abgeräumt und erreicht mit dem Slot am We Are One eine globale Reichweite, von der die meisten jungen Filmemacher*innen nur träumen können.
Ich sehe den Kurzfilm mit dem ausgezeichneten Pacing, grossartigem Schauspiel und atmosphärischem Sounddesign von Gina Keller nicht zum ersten Mal und freue mich über ein, zwei bekannte Gesichter, die sich darin die Koch- respektive Servierschürze übergestreift haben. Die Message der Michelin-Küchen-Geschichte geht besonders tief: Für eine erfolgreiche Karriere, egal in welchem Metier, benötigt man nicht (nur) Talent, sondern vor allem Ambition, um der steilen Hierarchie trotzen zu können. Diese Aussage ist so persönlich wie universell zugleich, dass man mit Kochen und dem Gastrogewerbe gar nichts am Hut haben muss, um beim spannungsgeladenen Küchenthriller mitzufiebern.
Und hier folgt ein weiterer Vorteil der Online-Screenings: Neben dem Replay-Button verfügt mein primäres Visionierungsgerät, der Laptop, gegenüber den Filmprojektoren von Kinosälen auch über eine unbelastete Leichtigkeit, sodass in Kürze im Garten ein kleines Mini-Freilichtkino aufgebaut werden kann und sich alle meine Mitbewohner als Dessert mit «Cru» den Bauch vollschlagen können.
Von Herzschmerz, sprechenden Projektoren und Eiern
Die Wochen im Home-Office haben meine Aufmerksamkeitsspannweite deutlich verkürzt, weswegen ich mich hauptsächlich für Shorts entscheide. Was nicht nach zwei Minuten packt, läuft beim Online-Festival Gefahr, weggeklickt zu werden. Das umfassende Programm mutiert zum Strohsack, das für persönliche Goldstückchen durchforstet wird. Während bei Festivals das gekaufte Vorstellungsticket oft brav abgesessen wird, reicht in der Onlineversion ein Klick und der Film versinkt in den Annalen des Ungesehenen. Programmierte Filme unterstehen beim Online-Festival der Aufmerksamkeitsökonomie des Internets, und die waltet brutal.
Mich faszinieren «Circus Person» von Britt Lower, die selbst eine Malerin mit Herzschmerz mimt, den sie auf witzige, aber auch tiefgründige Weise mit einem ungeschriebenen Brief an die neue Herzensdame ihres Ex zu verarbeiten versucht. Ihrem Credo «I can be wild too» folgend, schliesst sie sich daraufhin den Akrobaten und Wanderkünstlerinnen eines Zirkus an.
Viel minimalistischer funktioniert «Over» von Jörn Threlfall, in dem ein rätselhafter Unfall anhand überwachungskameraähnlicher Ästhetik rückwärts rekonstruiert wird und eine ebenso kuriose wie herzzerbrechende Auflösung liefert. Und «Egg» von Michael J. Goldberg erzählt im Trash-Stil die Abenteuer eines gewöhnlichen Hühnereis wie du und ich.
Auch Kurzfilme, die das Medium Film selbst metamässig beschreiben, kommen nicht zu kurz. In «Le coup des larmes» von Clémence Poésy wird Schauspielerin Florence (India Hair) für eine Rolle von ihrer Ex im Schiessen unterrichtet, was nicht nur ihre Schützen-Fähigkeit, sondern auch ihr Schauspieltalent poliert.
Im nur dreiminütigen futuristischen «24 Frames per Century» von Athina Rachel Tsangari werweissen zwei Filmprojektoren, ob sie jemand auf ihrer verlassenen «Le Mépris»-esken Insel weiter am Leben lässt, wenn ihre Filmrollen leergelaufen sind. Und in «Dramatic Relationships» von Dustin Guy Defa bringt dieser in seiner Metarolle als Regisseur kleine Anpassungen am Spiel seiner Schauspielerinnen an, um so die an Sets oft vorherrschenden patriarchalen Machtgefälle provokant zu inszenieren.
Iñárritu hasst den Handybildschirm und Abramović spornt zum Home-Sport an
Dass das Youtube-Festival nicht nur Filme aus aller Welt zeigt, sondern Masterclasses und Diskussionen von grossen Namen der Branche integriert, lässt mein Sitzfleisch höher hüpfen, denn die Gespräche können auch im Audio-Modus angehört werden. So rolle ich mich beim Gespräch zwischen Marina Abramović und Alejandro González Iñárritu («Birdman», «The Revenant») – einer Aufzeichnung des Tribeca-Festivals von 2017 – meine verstaubte Yogamatte aus und widme mich einer kleinen mitternächtlichen Gymnastiksession. Das müsste mir einer der Besucher des Originalpanels erst nachmachen!
Und auch das frei wählbare Zeitfenster – bei mir 00:12 Uhr nachts – ist ein kleiner Luxus, muss man sich bei In-Person-Festivals doch dem vorgegebenen Spielplan fügen und von Location zu Location hasten. Ebenso ist der Kampf um letzte Tickets bei Online-Editionen eine Lästigkeit, auf die verzichtet werden kann, denn wie wir wissen, ist das Internet tief und bietet Platz für alle.
«Filme auf einem Handy zu sehen, meint Iñárritu, ist, wie einen Velázquez im Prado zu sehen und dann als Postkarte mit nach Hause zu nehmen.»
Iñárritu ist dem Home-Watching als Cineast abgeneigt. Aber eben: Die Aufzeichnung stammt aus dem Jahr 2017, als fehlt der Bemerkung der Lockdown-Kontext. Filme auf einem Handy zu sehen, meint er, ist, wie einen Velázquez im Prado zu sehen und dann als Postkarte mit nach Hause zu nehmen. Wer einen Film auf einem kleinen Bildschirm ansieht, hat ihn nicht wirklich gesehen, so wie eine Postkarte niemals dem Erlebnis, vor einem Originalgemälde zu stehen, das Wasser reichen kann.
Doch abgesehen von den Kurzfilmen und den Panels, ist meine Geduld, noch länger auf dem Home-Office-Stuhl zu sitzen, zu gering, als dass ich mir die Langspielfilme vernünftig anschauen könnte, wobei die Auswahl hier genauso hochkarätig ist wie bei den Shorts und meine Entdeckerspürnase zu gerne meine persönlichen Favoriten entdeckt hätte. Hier ähnelt das Online-Erlebnis dem physischen «Du kannst nicht nichts verpassen»-Motto, das einmal eine weise Stimme verkündete. Auch wenn der Raum des Netzes unbegrenzt ist, gehorcht er den weltlichen Regeln, wonach nicht mehr als 24 Stunden in einen Tag passen und die Augen spätestens nach vier Stunden vor dem Bildschirm qualvoll zu tränen beginnen.
Eine abschliessende Liebeserklärung
Online-Festivals können (Überraschung!) niemals richtige, traditionsverliebte und dennoch mit den Trends gehende Festivals vor Ort ersetzen. Zu wichtig ist bei Festivalbetrieb und -atmosphäre der Austausch mit anderen Zuschauern, egal ob branchenintern oder -extern. Zu unentberlich die grosse Leinwand und die Soundanlage. Zu schön die Spaziergänge von einem Kinosaal zum nächsten zum Kopfauslüften, am liebsten am Lago Maggiore, dem azurblauen Mittelmeer entlang oder durch das verschneite Solothurn. Zu weich die Kinosessel (auch im Palexpo in Locarno!), zu perfekt gemixt der Festivalcocktail. Zu wertvoll die Ansammlung an Filmtickets, die, zusammen mit dem Festivalpass in einem grossen Couvert aufbewahrt, ein zu schönes Souvenir an die erlebten Tage bilden.
Ein wortwörtlicher Bildrausch kann auch im Heimkino ausgelöst werden, und in einer Zeit, in der das Innenleben einiges vom sonst so gross angelegten Aussenleben in sich selbst finden muss, sind stundenlange Festivalfilmmarathons daheim doch süsser als der selbstgebackene Himbeerkuchen und ein wenig horizonteröffnender als es die Gespräche mit der eigenen Zimmerpflanze sind (sorry, Gummibaum, I still love you.).
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