«Pacifiction», der neue Film des katalanischen Regisseurs Albert Serra, verlangt seinem Publikum in erster Linie eines ab: Geduld. Wer diese aufbringt, wird mit einer ungemein eindringlichen Satire über den modernen Kolonialismus belohnt.
Wenn sich europäische oder europäischstämmige Künstler*innen an Kolonialismuskritik versuchen – von Joseph Conrads Novelle «Heart of Darkness» (1899) über Werner Herzogs Konquistadoren-Höllentrip «Aguirre, der Zorn Gottes» (1972) bis hin zu Lucrecia Martels historischer Satire «Zama» (2017) –, dann steht sehr oft die absurde Hilflosigkeit und Unbeholfenheit kolonialer Verwalter*innen im Mittelpunkt: Sie sind gestrandet in einer Welt, die sie weder verstehen noch verstehen wollen, die sie regieren und «zivilisieren» – sprich: gewaltsam europäisieren – sollen, sodass sie irgendwann befördert werden, ihr Amt weitergeben und nach Hause zurückkehren können.
Dass sich der katalanische Filmemacher Albert Serra in diesem Format heimisch fühlen würde, war absehbar. Seine bisherige Filmografie strotzt nur so vor schwarzhumorigen Auseinandersetzungen mit den Reichen, Schönen und Mächtigen aus Europas imperialer Vergangenheit: In «Story of My Death» (2013) und «Liberté» (2019) gibt sich der barocke Hochadel den eigenen niederen Verlangen hin und wird dabei nach Strich und Faden vorgeführt; derweil das Publikum in Serras «La Mort de Louis XIV» (2016) den titelgebenden Monarchen in den letzten Monaten seines Lebens begleitet – und dem ach so herrlichen «Sonnenkönig» dabei quasi beim Verwesen zuschaut.
Doch hier kommt der Twist: Anders als der Grossteil von Serras bisherigen Werken spielt sein neuester Wurf, die Neokolonialismus-Groteske «Pacifiction», gar nicht vor einem historischen Hintergrund. Hier agieren keine Sklaventreiber*innen in üppigen Kostümen, sondern ein smart-casual gekleideter Benoît Magimel («Incroyable mais vrai»), der als Hochkommissar De Roller mit professionellen Meetings, freundlichem Smalltalk und aalglattem Networking dafür sorgt, dass im immer noch bestehenden französischen Pazifik-Hoheitsgebiet Polynesien alles seine Ordnung hat.
«‹Pacifiction› ist ein wunderbar mehrdeutiger Titel, der nicht nur ‹Beschwichtigung› und ‹Befriedung›, sondern auch ‹Pazifik-isierung› und ‹Pazifik-Fiktion› suggeriert.»
Doch es rumort im scheinbaren Palmen-Paradies Tahiti: Es gehen Gerüchte um, dass das französische Militär darauf sinnt, die Welt an die globale Strahlkraft der «Grande Nation» zu erinnern und seine umstrittenen Atombobentests im Pazifik nach fast 30-jähriger Feuerpause wieder aufzunehmen. De Rollers Aufgabe ist klar: Nach aussen hin wird verneint und beschwichtigt; intern wird nachgehakt – doch den Winkelzügen von Frankreichs kolonialer Machtpolitik scheint nicht einmal der allseits beliebte Verwalter gewachsen zu sein.
Diese Prämisse hätte durchaus das Zeug zu einem packenden politischen Thriller, doch Serra geht, wie so oft, seinen eigenen, nicht eben versöhnlichen Weg: «Pacifiction» – ein wunderbar mehrdeutiger Titel, der nicht nur «Beschwichtigung» und «Befriedung», sondern auch «Pazifik-isierung» und «Pazifik-Fiktion» suggeriert – dauert geschlagene 165 Minuten, besteht hauptsächlich aus ausgedehnten, auffallend einseitigen Dialogen und langen stillen Einstellungen, und am Ende wurden nur die wenigsten aufgeworfenen Fragen beantwortet.
Was genau hat es mit den mysteriösen Männern auf sich, die De Roller zu beschatten scheinen? Was sind die versteckten Motivationen des jungen Emporkömmlings Matahi (Matahi Pambrun), der De Roller mit gross angelegten Demonstrationen droht? Inwiefern ist es der charmanten Tänzerin Shannah (Pahoa Mahagafanau) gelungen, ihre eigenen Zukunftsperspektiven zu verbessern? Serra verweigert sich einer konventionellen Auflösung und schickt De Roller in der Schlussviertelstunde stattdessen auf eine surreale Reise durch den nächtlichen Tropenregen und in einen Nachtclub, wo bekanntermassen selten klare Verhältnisse herrschen und den eigenen Sinnen nicht zu trauen ist – eine äusserst passende Metapher für die undurchsichtigen Ränkespiele neokolonialer Politik.
«De Roller sitzt im goldenen Käfig Tahiti, betrachtet einen spektakulären Sonnenuntergang nach dem anderen, schlürft Cocktail um Cocktail, gibt den jovialen Offiziellen – ohne jedoch irgendeinen Einfluss auf die potenziell weltbewegende Geopolitik zu haben, die hinter seinem Rücken stattfindet.»
Wie schon «Zama» – oder, um einen literarischen Vergleich zu bemühen, «Der Zauberberg» (1924) – handelt «Pacifiction» letztlich davon, wie einem Mann, der sich als mächtige historische Hauptfigur wähnt, langsam dämmert, dass die Geschichte unentwegt an ihm vorbeizieht. So wie Don Diego de Zama in Lucrecia Martels Film im argentinischen Niemandsland feststeckt, so wie Hans Castorp in Thomas Manns Jahrhundertroman im Kurhotel Schatzalp in Davos gestrandet ist, so sitzt De Roller im goldenen Käfig Tahiti, betrachtet einen spektakulären Sonnenuntergang nach dem anderen, schlürft Cocktail um Cocktail, gibt den jovialen Offiziellen – ohne jedoch irgendeinen Einfluss auf die potenziell weltbewegende Geopolitik zu haben, die hinter seinem Rücken stattfindet.
«Stück für Stück, Szene für Szene entpuppt sich De Rollers sonnendurchfluteter Tahiti-Traum als perfider Albtraum, dessen heimtückische Tiefen einen selbst lange nach Filmende noch in ihren Bann ziehen.»
Es ist diese Situation, die Serra mit seiner Erzählung im Zeitlupentempo fassbar zu machen versucht: Es gilt, sich von De Rollers Eloquenz und der allzu perfekten, von Kameramann Artur Tort entsprechend schwelgerisch und farbenprächtig eingefangenen Schönheit der Inselkulisse bezirzen zu lassen – sich von der Gewohnheit loszusagen, im Kino kompromisslose narrative Zielstrebigkeit zu erwarten. In «Pacifiction» wird auf und vor der Leinwand gesessen, gewartet und genossen – und das im Wissen, dass knapp ausserhalb des Blickfelds ungeheuerliche, mitunter sogar tödliche Entscheidungen getroffen werden.
Damit macht es Serra seinem Publikum zwar alles andere einfach. Doch diese nebulös entrückte, unterschwellig satirische Darstellung von Kolonialismus aus der Nutzniesser-Perspektive entwickelt mit der Zeit eine geradezu hypnotische Sogwirkung: Stück für Stück, Szene für Szene entpuppt sich De Rollers sonnendurchfluteter Tahiti-Traum als perfider Albtraum, dessen heimtückische Tiefen einen selbst lange nach Filmende noch in ihren Bann ziehen.
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Kinostart Deutschschweiz: 29.12.2022
Filmfakten: «Pacifiction» / Regie: Albert Serra / Mit: Benoît Magimel, Pahoa Mahagafanau, Marc Susini, Matahi Pambrun, Alexandre Mello, Sergi López, Cécile Guilbert / Frankreich, Spanien, Portugal, Deutschland / 165 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Sister Distribution
«Pacifiction» ist langsam – sehr langsam. Wen das nicht abschreckt, bekommt von Albert Serra einen hypnotischen Anti-Politthriller über den modernen französischen Kolonialismus vorgesetzt.
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