Peter Lindbergh zählt zu den wichtigsten Starfotografen des 20. Jahrhunderts und gelangte mit cineastischen Modefotografien und Portraits von Frauen im nonchalanten Film Noir-Look zu weltweiter Bekanntheit. Regisseur Jean-Michel Vecchiet widmet ihm einen faszinierenden Dokumentarfilm, in dem er der Frage auf den Grund geht, wie Lindbergh zum Künstler wurde und was sich hinter all den Fotografien verbirgt.
Ein Film, der die Fotografie verlängert
Einen Film über einen Künstler zu drehen, der sich hauptsächlich mit Momentaufnahmen beschäftigt, erscheint herausfordernd: Peter Lindberghs Werk besteht aus festgehaltenen Bruchteilen von Sekunden, die auf Fotopapier in die unbewegliche Ewigkeit gebrannt worden sind. Somit widerspricht das Charakterwesen der Fotografie einer der wichtigsten Komponenten des Filmes: Nämlich der fortlaufenden Zeitlichkeit, der Aneinanderreihung von Bildern, die Geschichten in Bewegung ergeben.
«Peter Lindbergh – Women’s Stories» packt das Medium der starren Fotografie in das Medium des Films und verlängert so den begrenzten Zeitraum Lindberghs Lichtbilder, indem er den Zuschauer mit in die Welt nimmt, die in den fertigen Fotos nicht sichtbar wird: Wie geht Lindbergh mit den Models um? In welchem Setting wurden die Fotografien erschaffen? Wie manifestiert sich Lindberghs Blick in den Bildern? Besonders unterhaltsam sind hier die Behind-the-Scenes-Aufnahmen von der jungen Naomi Campbell, von deren zickigen, aber dennoch sympathischen Allüren Lindbergh sich nicht einschüchtern lässt und das Supermodel mit seinem zwischenmenschlichen Gespür schlussendlich doch in den kalten Pool für die perfekten Aufnahmen locken kann – in dem er kurzerhand selbst ins kühle Nass springt.
Ein revolutionärer Modefotograf, der den Frauen in die Seele blickt
Seinen Durchbruch erlangte Lindbergh 1988, als er eine neue Generation von jungen Models in weissen Hemden ablichtete und ein Jahr später in einer Aufnahme Linda Evangelista, Naomi Campbell, Tatjana Patitz, Cindy Crawford und Christy Turlington vereinigte. Lindbergh randalierte mit den Aufnahmen seiner Modells mit rockiger, dennoch natürlicher Attitüde gegen das Bild, dem eine Frau entsprechen sollte. Danach schoss Lindbergh für Hochglanzmagazine wie «Harper’s Bazaar» oder «Vogue» Fotografien, die immer eines gemeinsam zeigten: Eine unglaublich scharf gestochene Präzision in einer Einfachheit, die das scheinbar rohe Wesen der abgelichteten Person hinter der oftmals von der Öffentlichkeit verzerrten Persona zeigt.
Besonders in heutiger Zeit, in der sich der Hashtag #metoo immer noch präsent darlegt, ist es erfrischend und schön, einem Mann bei der Arbeit zuzusehen, der in Frauen vernarrt ist, diese aber mit grösstem Respekt behandelt und nicht in den schleimigen Spuren seines eigenen male gaze ausrutscht. Die Einseitigkeit der #metoo-Debatte und der daraus folgende Schuss nach hinten des Feminismus – in anderen Worten, das Schwarzmalen aller Männer im Film- und Showbusiness – wird so aus seinen eisernen Schranken gehoben.
Peter Lindbergh im Gespräch mit der deutschen Vogue: Schönheit ohne Wahrheit ist unmöglich.
Ein Regisseur, der nach der Entstehung eines Genies sucht
Regisseur Jean-Michel Vecchiet, dessen Filmografie Dokus über Jean Michel Basquiat («Basquiat, a Life», 2011) und Andy Warhol («Andy Warhol: Life and Death», 2005; «Andy Warhol: l’Œuvre Incarnée», 2007) umfassen, befragt zahlreiche Frauen, deren Leben sich in verschiedenster Weise mit Lindberghs gekreuzt haben. Dazu gehören die eigene Schwester, Lebenspartnerinnen, Geschäftspartnerinnen.
Vecchiets Recherche zu Lindbergh dauerte 25 Jahre an, welche von einem opus poeticum gekrönt wird, das Lindberghs Leben nicht streng chronologisch nacherzählt, sondern vielmehr in assoziativer Gliederung den Mann hinter der Kamera Stück für Stück zu enthüllen versucht. Wie es in vielen anderen filmischen Künstlerbiografien getan wird, sucht Vecchiet nach dem Urtrauma, das Lindbergh zum kreativen Genie gemacht hat, zieht Geschichten seiner Kindheit in der Nachkriegszeit als Erklärungsversuch heran, der aber nicht wirklich funktionieren will. Die geplante Entmystifizierung verläuft diametral entgegengesetzt und bläst den Fotografen zu einem grösseren Mysterium auf, als er ist: Denn schlussendlich ist Lindbergh ein begnadeter Fotograf, mit einem Händchen für den Umgang mit Menschen, einer klaren Vision, Überzeugungskraft und unwiderlegbarer Passion für die Fotografie. Ein sympathischer Mann, der seinem inneren Ruf folgt und sich vor dem Blitzlichtgewitter lieber zurückzieht, sofern er nicht selbst auf den Auslöser drückt.
Wer sich nicht wirklich mit Modefotografie auskennt und wem Peter Lindberghs Werk nur im passiven Gedächtnis ein Glöckchen erbimmeln lässt (pointing at the author here) lernt in «Peter Lindbergh – Women’s Stories» einiges über den Fotografen, ohne nachher aber allzu viel über ihn als Wesen zu wissen.
–
Kinostart Deutschschweiz: 8. August 2019
Filmfakten: «Peter Lindbergh – Women’s Stories» / Regie: Jean-Michel Vecchiet / Mit: Peter Lindbergh, Astrid Lindbergh, Naomi Campbell, Charlotte Rampling, Helga Polzin / USA / 104 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Sony Pictures Releasing Switzerland GmbH
Ein schöner Schnappschuss eines einzigartigen Fotografen für alle anderen Cineasten.
No Comments