Disney, ich werde nicht lange um den heissen Brei herumreden: So geht es nicht weiter. «Pinocchio» ist abscheulich. Noch schlimmer: Du bist dir dessen bewusst. Dies ist eine Intervention.
Disney. Man interveniert nicht aus Gleichgültigkeit – natürlich liegst du uns noch am Herzen: Teils, weil du eine Vielzahl unserer Lieblingsfilme aus der Kindheit erschaffen hast. Teils, weil dir die halbe Welt gehört und du zu mächtig bist, als dass wir dich ignorieren könnten. Sanfte Nostalgie und pure Angst – ein Erfolgsrezept.
Und doch scheint es uns, als sei dir die Weltherrschaft zu Kopf gestiegen. Jedes Jahr wirfst du mithilfe von Star-Regisseur*innen ein paar lieblose Live-Action-Remakes auf den Markt. Dass diese nicht gut sind, weisst du: Mit jedem Film werden die Kritiken schlechter – bald, so scheint es, geht Rotten Tomatoes der Schimmel aus.
«Disney. Man interveniert nicht aus Gleichgültigkeit – natürlich liegst du uns noch am Herzen: Teils, weil du eine Vielzahl unserer Lieblingsfilme aus der Kindheit erschaffen hast. Teils, weil dir die halbe Welt gehört und du zu mächtig bist, als dass wir dich ignorieren könnten.»
Klar, wir sind irgendwie mitschuldig: Niemand brauchte Kenneth Branaghs «Cinderella» (2016) – nicht in einer Welt, in der es bereits gefühlt tausend Verfilmungen dieses Urmärchens gibt, allen voran den makellosen Weihnachtsklassiker «Drei Haselnüsse für Aschenbrödel» (1973). Aber gleichzeitig war dein Film so unbedrohlich langweilig, dass wir dich gewähren liessen. Auch Jon Favreaus düsteres «The Jungle Book» (2016) liess uns nicht aufhorchen – zu geblendet waren wir vom grotesken Christopher Walken als singendem Riesenaffen. Disney, wir bekennen uns mitschuldig.
Doch du hast dieses naive Vertrauen schamlos ausgenutzt. Statt deine Ressourcen in neue Projekte zu stecken oder dir kreative Taktiken zu überlegen, um deine Animations-Hits in neuen Gewändern zu präsentieren, serviertest du uns weiter uninspiriert Aufgewärmtes – zum Beispiel «Beauty and the Beast» (2017) und «Aladdin» (2019), beide so nahe am Original, dass man sich fragt, wozu sie überhaupt neu aufgelegt wurden. Endgültig zu weit gingst du mit «The Lion King» (2019): Die emotionslosen Löwenfratzen, die bis in die tiefsten Winkel unserer Seelen starrten, verfolgen uns bis heute…
Unsere Proteste wurden lauter: Wozu ein lieblos zusammengeschustertes Remake schauen, wenn es farbenfrohe Originale gibt, die ganz bewusst das Medium der Animation nutzten, um Magie zum Leben zu erwecken und Tieren menschliche Gefühle zu entlocken? Und doch sprachen die Zahlen weiter für dich, Disney: «The Lion King» wurde zum finanziell erfolgreichsten Animationsfilm (von wegen «Live Action»…) aller Zeiten. Einmal mehr liegt die Schuld, so scheint es, bei uns.
Jetzt versucht also Robert Zemeckis («Back to the Future», «Forrest Gump») sein Glück, mit «Pinocchio» einen weiteren Disney-Klassiker neu aufzuwärmen. Dass man die oftmals wiedergekäute Geschichte über die Holzpuppe durchaus frisch und innovativ aufbereiten könnte, zeigte etwa jüngst «Dogman»-Regisseur Matteo Garrone, als er «Pinocchio» 2019 als schaurig-verstörendes Märchen inszenierte und dafür auf handgemachte Effekte und Make-up setzte. Auch der Trailer für den anstehenden Stop-Motion-Animationsfilm von Guillermo del Toro («El laberinto del fauno», «The Shape of Water») ist ein visuell betörender Happen, der trotz drohender «Pinocchio»-Übersättigung Vorfreude weckt. Und Zemeckis selbst bringt, so würde man meinen, die idealen Voraussetzungen mit für ein «Live Action»-Remake, das animierte Figuren und echte Schauspieler*innen aufeinandertreffen lässt – so führte er doch einst Regie beim diesbezüglich wegweisenden Klassiker «Who Framed Roger Rabbit» (1988)!
Ganz gewiss hast du, Disney, also Zemeckis bewusst ausgewählt, damit er «Pinocchio» auf Hochglanz poliert und das Spiel zwischen Animation und «Live Action» weiter auslotet – quasi ein «Mary Poppins» (1964) fürs 21. Jahrhundert. Oder? Oder…? Nein, natürlich nicht. Sonst wären wir ja nicht hier: Uninspiriert, seelenlos und potthässlich lässt du Zemeckis die Geschichte vom Holzbuben, der ein echter Junge werden will, nacherzählen – eine meisterliche Gratwanderung zwischen Selbstplagiat und unverständlichen Verschlimmbesserungen.
«Uninspiriert, seelenlos und potthässlich lässt du Zemeckis die Geschichte vom Holzbuben, der ein echter Junge werden will, nacherzählen – eine meisterliche Gratwanderung zwischen Selbstplagiat und unverständlichen Verschlimmbesserungen.»
Pinocchios Design weicht nicht von dem des Originals ab – nur, dass nichts an dem Kerlchen mit dem gelben Hut und der blauen Schleife an Holz erinnert, sondern vielmehr an lebloses Plastik, dem jegliche Haptik abhandengekommen ist. Auch Jiminy Cricket (nervtötend gesprochen von Joseph Gordon-Levitt) ist ein hässlicher kleiner Wicht, der keine Sekunde wirkt, als würde er in der gleichen Dimension existieren wie die (wenigen) echten Schauspieler*innen um ihn herum – darunter der väterlichste aller Hollywood-Väter: Tom Hanks als Gepetto. Konsequenterweise sind auch die meisten Hintergründe wüst animiert, vom ewigen CGI-Dämmer belichtet und belebt von falschen Katzen, Fischen und Möwen. Kein Wunder träumt Pinocchio in all dieser albtraumhaften Künstlichkeit davon, ein «echter Junge» zu werden.
Auch die spärlichen inhaltlichen Anpassungen geben dem Film kein Recht, zu existieren, sondern blasen ihn nur weiter unförmig auf. Ein Nebenplot über eine junge Frau mit Ballerina-Ambitionen (Kyanne Lamaya) wird nur eingefügt, damit es Platz für einen sinnlosen Song gibt, der vermutlich direkt aus Lin-Manuel Mirandas Papierkorb gefischt wurde. Eine Szene, in der Pinocchio aus der Schulstube geworfen wird, zeigt wunderschön, wie viel zahnloser dieses Remake ist: Während das Original dafür argumentiert, dass Kinder durchaus egoistisch und bösartig handeln können (Pinocchio entscheidet sich gegen die Schule und für das Theaterleben), entscheidet dieser kleine Plastikstreber gar nichts selbst, sondern lässt sich vom Plot mittreiben. Langweilig! Zuletzt wird das Ganze noch mit einer gehörigen Prise ätzendem Humor gewürzt, von dem man nicht weiss, wen er ansprechen soll: Irgendwie meta, irgendwie Millennial, irgendwie furchtbar. (Was könnte ein toller Name für Pinocchio sein? Chris Pine!)
«Zuletzt wird das Ganze noch mit einer gehörigen Prise ätzendem Humor gewürzt, von dem man nicht weiss, wen er ansprechen soll: Irgendwie meta, irgendwie Millennial, irgendwie furchtbar.»
Disney – was soll das? Ja, die Weltherrschaft ist dein: Du musst dich nicht mehr beweisen. All hail, et cetera. Aber wie viel schöner wäre es, wenn du diese Macht zum Guten einsetzen würdest? Mit grosser Macht kommt grosse Verantwortung – sagt eine andere Franchise, die du dir unter den Nagel gerissen hast (und die seither, übrigens, auch immer langweiliger wird). Ein Blick auf deine kommenden Projekte treibt einem kalte Schauer über den Rücken: Remakes von «The Little Mermaid», «Peter Pan», «Snow White», «Hercules», Sequels zu «The Lion King», «Aladdin», «The Jungle Book»… Es ist genug! Wir geben auf! Du hast doch unser Geld schon, unsere Zuneigung, unsere Kindheit – jetzt versuch dich endlich mal wieder an Kunst statt an Kopie!
Über «Pinocchio» wird auch in Folge 49 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Filmfakten: «Pinocchio» / Regie: Robert Zemeckis / Mit: Tom Hanks, Benjamin Evan Ainsworth, Joseph Gordon-Levitt, Keegan-Michael Key, Lorraine Bracco, Giuseppe Battiston, Cynthia Erivo, Luke Evans, Kyanne Lamaya / USA / 105 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Photo courtesy of Disney Enterprises, Inc. © 2022 Disney Enterprises, Inc. All Rights Reserved.
Disney lässt Robert Zemeckis mit «Pinocchio» einen weiteren Animationsklassiker neu auflegen. Das Resultat ist uninspiriert, seelenlos und richtig hässlich anzuschauen.
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