«Are you here for business or pleasure?», wird die 20-jährige Linnéa bei der Einreise von Schweden nach Los Angeles gefragt. «Pleasure», antwortet sie ganz selbstverständlich – und meint es auch. Das Langfilmdebüt der Drehbuchautorin und Regisseurin Ninja Thyberg lässt tief in die knallharte Welt der Pornoindustrie blicken, über die niemand reden will, obwohl jede*r weiss, dass sie existiert.
Am Anfang stand die Rasur. Der Blick der Kamera ist zwischen die Beine gerichtet, wo das Duschwasser die Schamhaare und etwas Blut wegspült, bevor die Reise in die Hochburg der Pornoindustrie angetreten wird. Linnéa (Sofia Kappel) nennt sich nun Bella Cherry und wird von ihrem mittelmässigen Agenten Mike (Jason Toler) in ihre neue Bleibe geschickt, die sie sich mit anderen aufstrebenden Pornosternchen teilen soll. «Freunde dich mit keiner von denen an», warnt Bear (Chris Cock), der sie hinfährt. Denn in diesem Business hat man keine Freunde.
Bella hat ohnehin nur ein Ziel: Sie will der grösste Pornostar werden und ist bereit, alles dafür zu tun. Im Vertrag werden alle Optionen angekreuzt, auch wenn sie beim einen oder anderen Punkt naiv nachfragen muss, was er bedeutet. Sie lernt schnell und lässt sich von Joy (Revika Anne Reustle), ihrer Zimmerkollegin, zeigen, wie ein perfekter Blowjob auszusehen hat.
«Sie lernt schnell und lässt sich von Joy, ihrer Zimmerkollegin, zeigen, wie ein perfekter Blowjob auszusehen hat.»

Linnéa (Sofia Kappel) und Joy (Revika Anne Reustle) / Xenix Filmdistribution GmbH
Der erste Dreh: Überwindung ist angesagt. Man ermutigt sie. «Du machst das toll!»«Lass dir Zeit!» «Du musst nicht…!» Was ist eigentlich eine Vaginaldusche? Kamerafrau Sophie Winqvist filmt die Szene erst aus der Sicht des Pornodarstellers, der seinerseits Bella filmt, während sie ihm einen bläst. Zum Schluss ist Bella aus der Selfie-Perspektive zu sehen, während sie sich das Ejakulat stolz im Gesicht verschmiert.
Die Aufträge werden grösser, kommen aber über das Mittelmass des herkömmlichen Boy(s)-Girl(s)-Pornos nicht hinaus. Beim ersten Fotoshooting trifft Bella jedoch auf die unnahbare Ava (Evelyn Claire) und erfährt, dass diese zur Elite gehört und das neueste «Spiegler Girl» ist. Mark Spiegler, einer der einflussreichsten US-Agenten für Pornodarsteller*innen, der sich auch gleich selbst spielt, lebt das «No Limit»-Prinzip und erwartet von seinen Schützlingen uneingeschränkte Verfügbarkeit, keine Grenzen und, vor allem, kein Drama.
Genau da will Bella hin und lässt sich deshalb auf härtere Jobs ein, um Spiegler zu beeindrucken. Der erste Bondage-Dreh, von Frauen produziert, erweist sich als «respektvoller Einstieg» in die Hardcore-Szene, mit freundlichem Cast, Getränken und Signalwörtern, wenn ihre Grenze erreicht ist. In einem anderen Setting, ausschliesslich aus Männern bestehend, wird auf ebendiese Regeln aber gepfiffen, und die Grenze zur Vergewaltigung ist nicht mehr erkennbar. Bella wird ermutigt, sie mache ihre Sache toll, sie solle sich Zeit lassen, aber am Ende wird dann doch noch auf den Vertrag hingewiesen.
Mike steht nicht hinter ihr, und ihre Mutter sagt ihr per Telefon, dass sie nicht schon wieder nach Hause kommen könne, sondern endlich eine Sache durchstehen und zu Ende bringen solle. Ihre Mutter hat offenbar keine Ahnung davon, was ihre Tochter in Los Angeles macht, aber es ist dieser eine zerbrechliche Moment, in dem das Publikum einen flüchtigen Einblick in Bellas Seelenleben erhascht – und in dem sich Bella zu emanzipieren beginnt, um ihre Sache doch noch durchzuziehen.
«Warum machst du nicht etwas anderes?», wird sie an einem feuchtfröhlichen Bier- und Pizzaabend von einer ihrer Mitbewohnerinnen gefragt, denen sie mittlerweile doch nähersteht als von Bear empfohlen. «Weil ich Schwänze liebe», antwortet Bella wie ein übermütiger Teenager. Und ja: Schwänze gibt es genug zu sehen in Ninja Thybergs Erstlingswerk, basierend auf ihrem gleichnamigen Kurzfilm, mit dem sie 2013 die Jury von Cannes erschreckte, und doch mit dem Canal+-Preis ausgezeichnet wurde.

Sofia Kappel in der Rolle als Linnéa, alias Bella Cherry / Xenix Filmdistribution GmbH
«Die Protagonist*innen in ihrem Langspielfilmdebüt arbeiten fast alle in der Pornoindustrie. Die 22-jährige Sofia Kappel hingegen ist weder Pornodarstellerin noch gelernte Schauspielerin und legt mit ihrer Rolle als Linnéa, alias Bella Cherry, ein bemerkenswertes, überaus überzeugendes Debüt hin.»
Thyberg war lange in der Anti-Porno-Bewegung aktiv, denn dieses frauenverachtende und oft auch rassistische Business würde nie ethisch einwandfrei funktionieren. Immer wieder recherchierte sie in L.A., und erkannte, dass das von Männern dominierte Geschäft nicht nur aufzeigt, was Pornografie mit Frauen macht, sondern vor allem, was diese Branche sowohl von Frauen als auch von Männern erwartet.
Die Protagonist*innen in ihrem Langspielfilmdebüt arbeiten fast alle in der Pornoindustrie. Die 22-jährige Sofia Kappel hingegen ist weder Pornodarstellerin noch gelernte Schauspielerin und legt mit ihrer Rolle als Linnéa, alias Bella Cherry, ein bemerkenswertes, überaus überzeugendes Debüt hin. 25 Tattoos, der Schmollmund und ihr Augenaufschlag runden zusammen mit ihrer Stimme, die an einen läufigen Husky denken lässt, ihre mutige und hervorragende Schauspielleistung ab. Egal, ob ungeschminkt in der Schlabber-Jogginghose oder im engen Neonkleidchen und Zwölf-Zentimeter-Absätzen.
Der Fokus der Kamera liegt nicht nur auf viel nackter Haut und erregten Penissen, sondern hauptsächlich auf der harschen Realität einer Industrie, die Business von Pleasure nicht unterscheidet. Von der Ankunft in L.A. bis in den Olymp der Spiegler-Girls, der nur dramafrei erklommen werden kann – Bellas Weg ist ein Karriereleiter-Balanceakt, der im Prinzip für jedes Business Gültigkeit haben könnte. Denn Bella ist nicht nur ein Opfer dieser Industrie: Sie entscheidet auch selbst, wie weit sie geht, und was es ihr wert ist.

Xenix Filmdistribution GmbH
«Thyberg hat mit ‹Pleasure› definitiv ein Minenfeld betreten, indem sie die grausame Realität dieses toxischen Milieus beschreibt, ohne es zu verurteilen. Am Ende stellt sich aber auch die Frage, wer hier eigentlich pervers ist: Diejenigen, welche die Pornofilme machen, oder jene, die sie sich ansehen.»
Der weibliche, ungeschönte Blick auf dieses kompromisslose Business wird nicht nur in detaillierten Nahaufnahmen und klaren Farben festgehalten; es ist vor allem der Score von Karl Frid, der diese Bilder trägt und das Publikum durch Bellas entmenschlichende Reise begleitet. Die Orgasmen, ob gespielt oder nicht, werden durch die Arien der Sopranistin Caroline Gentele sowie sakrale Chöre dramatisch verzerrt, sodass zwischen Lust und Schmerz nicht mehr unterschieden werden kann. Im Gegensatz dazu verkörpert der harte Hip-Hop-Beat der Rapperin Mapei das Selbstbild einer Pornodarstellerin als «böses Mädchen, das eigentlich nur ficken will» und die totale Kontrolle über sich und ihr Umfeld hat. Komponist Frid hat der Protagonistin dadurch eine zusätzliche Stimme verliehen, die auch ihre Fragilität hervorhebt, ohne ihre Erfahrungen zu schmälern.
Thyberg hat mit «Pleasure» definitiv ein Minenfeld betreten, indem sie die grausame Realität dieses toxischen Milieus beschreibt, ohne es zu verurteilen. Am Ende stellt sich aber auch die Frage, wer hier eigentlich pervers ist: Diejenigen, welche die Pornofilme machen, oder jene, die sie sich ansehen.
Über «Pleasure» wird auch in Folge 39 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 13.1.2022 / Streambar auf myfilm.ch, filmingo, Cinefile.ch oder Sky Show CH.
Filmfakten: Regie: Ninja Thyberg / Mit: Sofia Kappel, Revika Anne Reustle, Evelyn Claire, Chris Cock, Dana DeArmond, Jason Toler, Mark Spiegler / Schweden, Frankreich, Niederlande / 105 Minuten
Bild und Trailerquelle: Xenix Filmdistribution GmbH
Ninja Thybergs «Pleasure» zeigt, was die Pornoindustrie aus einer naiven 20-Jährigen macht, die den Unterschied zwischen Vergnügen und Business lernen muss. Grossartig.
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