Wer schon immer einmal Urlaub mit Pokémon machen wollte, hat in «Pokémon Concierge» die Gelegenheit dazu. Die mit Stop-Motion-Animation realisierte Netflix-Serie ist eine Freude für Fans jeden Alters.
Mit der Nostalgie ist es immer so eine Sache: Ein bisschen Wehmut für die Vergangenheit gehört zum Leben dazu, aber wenn sie Überhand nimmt, dann verliert man schnell jegliche Perspektive. Und das trifft nicht nur auf den persönlichen Alltag zu. Weite Teile der Unterhaltungsindustrie, angeführt von der Disney-Hegemonie, verlieren sich seit ein paar Jahren zunehmend im Strudel ungezügelter Nostalgie und fördern Film um Film, Serie um Serie zutage, deren einziger Daseinszweck zu sein scheint, das Publikum an Dinge zu erinnern, die ihnen früher einmal Freude bereiteten.
Furchtbare Live-Action-Remakes animierter Klassiker, einzig auf Selbstbeweihräucherung erpichte Neuerscheinungen, eine derart skywalkerbesoffene «Star Wars»-Galaxie, dass ein KI-Klon des jungen Mark Hamill inzwischen zum festen Figureninventar gehört, Comicverfilmungen wie «Spider-Man: No Way Home» (2021) und «The Flash» (2023), die hauptsächlich um Cameos älterer Versionen bekannter Superheld*innen herumgebaut sind – die Schlange beisst sich in den Schwanz, Vergangenheitskult übertrumpft Zukunftsvision.
«Die ursprünglichen ‹Pokémon›-Fans von damals sind inzwischen Mitte 30, und die Pokémon Company ist bis heute sichtlich darum bemüht, nicht nur neue Fans im Kindesalter heranzuzüchten, sondern auch die bestehende Klientel weit über ihre Teenager-Jahre hinaus bei der Stange zu halten.»
Dabei ginge es doch auch anders. Dass es ausgerechnet das «Pokémon»-Universum ist, das diesen Beweis antritt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, ist die Franchise doch ein Musterbeispiel für klug instrumentalisierte Nostalgie. Als die süssen titelgebenden Monster, die es einzufangen und gegeneinander kämpfen zu lassen gilt, in den späten Neunzigerjahren mithilfe von stilbildenden Videospielen, einer beliebten Anime-Serie und fieberhaft gehorteten Sammelkarten die Welt eroberten, waren Kinder eindeutig das primäre Zielpublikum. Doch die ursprünglichen Fans von damals sind inzwischen Mitte 30, und die für die Geschicke von Satoshi Tajiris Erfindung verantwortliche Pokémon Company ist bis heute sichtlich darum bemüht, nicht nur neue Fans im Kindesalter heranzuzüchten, sondern auch die bestehende Klientel weit über ihre Teenager-Jahre hinaus bei der Stange zu halten.
Zu dieser Strategie gehören neben der steten Produktion von neuen «Pokémon»-Spielen und Anime-Abenteuern auch die Entwicklung von Remakes und Neuauflagen von Spieleklassikern («New Pokémon Snap»), nicht altersspezifische Filme wie «Pokémon: Detective Pikachu» (2019) oder raffinierte Kollaborationen wie etwa jene mit Spieleentwickler Niantic, aus der 2016 die generationenübergreifende App-Sensation «Pokémon Go» hervorging.
Und auch die Serie «Pokémon Concierge» ist in diesem Kontext zu verstehen: Produziert wurde sie von der Pokémon Company, der japanischen Animationsschmiede Dwarf Studios und der Netflix-Animationsabteilung («Klaus», «The Sea Beast»); und obwohl ihr filziger Stop-Motion-Look und ihre kaum 20-minütigen Episoden auf den ersten Blick auf Kinder zugeschnitten zu sein scheinen, ist von Anfang an klar, dass hier auch ein erwachsenes Publikumssegment angesprochen wird.
«Haru wurde gerade von ihrem Freund per SMS abserviert, sie hat auf der Arbeit eine wichtige Präsentation in den Sand gesetzt, und ihre Schuhe sind auch ruiniert. Welche*r Millennial kennt es nicht?»
Denn anders als in der bis dato über 1’200 Episoden umfassenden Anime-Serie, in welcher sich einst der zehnjährige Ash Ketchum auf die Reise machte, um Pokémon-Meister zu werden, hat man es in «Pokémon Concierge» mit einer erwachsenen Protagonistin und ihren weitaus prosaischeren Problemen zu tun: Haru (im Original von Schauspielerin Non gesprochen) wurde gerade von ihrem Freund per SMS abserviert, sie hat auf der Arbeit eine wichtige Präsentation in den Sand gesetzt, und ihre Schuhe sind auch ruiniert. Welche*r Millennial kennt es nicht?
Doch anders als in der schnöden, pokémonlosen Realität, in der wir leben, hat Haru die Möglichkeit, diesem deprimierenden Alltagstrott zu entkommen: Sie beschliesst, ein neues Leben anzufangen, und zieht zu diesem Zweck auf eine tropische Insel, um im dort beheimateten «Pokémon Resort» – einem Wellness-Urlaubsort für Pokémon und ihre Trainer*innen – als «Concierge», also als Portierin, zu arbeiten. Das ist allerdings leichter gesagt als getan – nicht etwa, weil sich das Resort als weniger paradiesisch entpuppt als angekündigt, sondern weil Haru erst noch lernen muss, wie man sich von den Zwängen des Festlandes lossagt und sich angemessen entspannt.
Das Spiel mit der Nostalgie, das die Pokémon Company, Netflix, Regisseur Iku Ogawa und Drehbuchautorin Harumi Doki hier treiben, ist unübersehbar: Die mittlerweile erwachsenen Fans der ersten Stunde, die sich einmal von der Idee verzaubern liessen, wie Ash und Pikachu in die grosse weite Welt hinauszuziehen und Abenteuer zu erleben – und die seither von der Realität dieser «grossen weiten Welt» ernüchtert worden sind –, werden durch Harus Eintritt ins Pokémon-Paradies in die eigene Kindheit zurückversetzt. Oder anders gesagt: Haru arbeitet als «Pokémon Concierge», um sich vom Stress und den Frustrationen der modernen Welt zu befreien; die erwachsenen Zuschauer*innen schauen «Pokémon Concierge» zum selben Zweck.
Anders als ein «Spider-Man: No Way Home» oder ein «The Mandalorian» (2019– ) jedoch biedern sich Ogawa und Doki mit ihrer Serie bei ihrem erwachsenen Publikum nicht an. Erwachsene mit Kindheitserinnerungen an die «Rote Edition» und Ashs erste Niederlage in der Pokémon-Liga sind hier mitgemeint, aber nicht das Mass aller Dinge. Nostalgie steht auf dem Programm, ist aber nicht das zentrale Prinzip, an dem sich die vier kurzen Episoden inhaltlich, erzählerisch und ästhetisch orientieren.
«‹Pokémon Concierge› bleibt trotz seines Reizes für ‹Pokémon›-Fans im fortgeschrittenen Alter eine wunderbar gemütliche, anregend unspektakuläre Kindersendung.»
Nein, «Pokémon Concierge» bleibt trotz seines Reizes für «Pokémon»-Fans im fortgeschrittenen Alter eine wunderbar gemütliche, anregend unspektakuläre Kindersendung. Zusammen mit ihren Resort-Kolleg*innen – der schlagfertigen Alisa (Fairouz Ai), dem lockeren Tyler (Eita Okuno) und der mütterlichen Chefin Watanabe (Yoshiko Takemura) – durchlebt Haru alltägliche, pädagogisch relevante, eminent lösbare Mini-Notfälle, im Laufe derer sie mit einer ganzen Reihe herrlich animierter Stop-Motion-Pokémon aus allen Generationen der Franchisen-Historie in Kontakt kommt: Ein Wingull hat einem schwimmschwachen Karpador die Schwimmflügelchen gestohlen. Ein Enton – das inoffizielle Maskottchen der Serie, dessen Filz-Inkarnation hier dem legendären Pikachu in Sachen possierlicher Niedlichkeit mühelos den Rang abläuft – muss lernen, wie es mit seinen Kopfschmerzen/telekinetischen Fähigkeiten umgehen kann. Ein Pikachu soll seine Schüchternheit überwinden.
Das Ganze ist «Nicecore» in Reinform – filmische Unterhaltung, die darauf abzielt, bei den Zuschauer*innen wohlige Gefühle auszulösen und positive, optimistische Botschaften in die Welt zu tragen. Im Übermass kann das einem Film oder einer Serie schaden – Nicecore-Publikumslieblinge wie «Marcel the Shell with Shoes on» (2021) oder «Everything Everywhere All at Once» (2022) verlieren sich mitunter etwas in ihrem Streben nach Harmonie –, doch «Pokémon Concierge» hat, trotz eines etwas ziellosen Erzählbogens, genau die richtigen Dimensionen und Ambitionen für dieses Unterfangen: Man wird entführt auf eine weniger als 75-minütige Urlaubsreise, bei der sich nicht nur die Protagonistin, sondern auch die Menschen diesseits des Bildschirms entspannen können sollen.
«Man wird entführt auf eine weniger als 75-minütige Urlaubsreise, bei der sich nicht nur die Protagonistin, sondern auch die Menschen diesseits des Bildschirms entspannen können sollen.»
«Stop-Motion-Pokémon» ist eine Prämisse, bei der man im Grunde fast nichts falsch machen kann. Die Serie auf ihre eindrückliche, nur vereinzelt von Computereffekten unterstützte Animation und ihre liebevollen Figuren-, Pokémon- und Setdesigns zu reduzieren, wäre aber falsch. Ogawa und Doki demonstrieren hier auf äusserst ansprechende Weise, wie man mit einer heiss geliebten Franchise die Zukunft in Angriff nimmt, ohne mit der Vergangenheit zu brechen.
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Jetzt auf Netflix
Serienfakten: «Pokémon Concierge» («ポケモンコンシェルジュ», «Pokemon konsheruju») / Regie: Iku Ogawa / Mit: Non, Fairouz Ai, Eita Okuno, Yoshiko Takemura / Japan, USA / 4 Episoden à 14–20 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Netflix
Ob gestresste*r Millennial mit schönen GameBoy-Erinnerungen oder pokémonvernarrtes Kind – «Pokémon Concierge» bietet allen Fans der Taschenmonster gemütliche, witzige Unterhaltung.
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