Mehr als 145’000 Menschen strömten vom 2. bis zum 12. August ans 76. Locarno Film Festival – eine signifikante Verbesserung gegenüber dem Vorjahr. Und auch das Programm liess sich sehen: Wir stellen euch unsere Lieblingstitel von Locarno 2023 vor.–
«Do Not Expect Too Much from the End of the World» von Radu Jude
Die Filme von «Bad Luck Banging or Loony Porn»-Regisseur Radu Jude sind ein Labsal für all jene, die der Meinung sind, dass das politisch relevante Weltkino mitunter ein bisschen zu brav, ein bisschen zu gleichförmig daherkommt. Und das jüngste Werk des Rumänen, die wuchtige 163-minütige schwarze Komödie «Do Not Expect Too Much from the End of the World», die in Locarno den Jury-Spezialpreis einheimste, ist keine Ausnahme: Mit einer grossartigen Ilinca Manolache in der Hauptrolle nimmt Judes vulgär-philosophisches Porträt einer überarbeiteten Filmproduktionsassistentin nicht nur die toxische spätkapitalistische Arbeitskultur auseinander, sondern hält den Finger in eine ganze Reihe sozialer und politischer Wunden – vom grassierenden Antiziganismus über den neuen westeuropäischen Imperialismus bis hin zur Apathie der Regierung Rumäniens. Hier trifft Uwe Boll auf einen rumänischen Film aus den Achtzigerjahren, die Lumière-Brüder auf TikTok, Furz- und Genitalwitze auf eine Nachfahrin Goethes. Kurz: «Do Not Expect Too Much from the End of the World» ist schon jetzt einer der besten Filme des Jahres. / Alan Mattli
«Shayda» von Noora Niasari
Eine persönliche Geschichte so zu erzählen, dass sie sich dennoch universell anfühlt, ist keine einfache Aufgabe. In ihrem Debütfilm «Shayda» schafft Noora Niasari aber genau das und hat sich damit den Platz als Abschlussfilm des 76. Locarno Film Festivals redlich verdient. Inspiriert von ihrer eigenen Kindheit, handelt der Film von der jungen iranischen Mutter Shayda (Zar Amir Ebrahimi), die zusammen mit ihrer Tochter Mona (Selina Zahednia) in einem australischen Frauenhaus Schutz vor ihrem gewalttätigen Ehemann sucht. In der Zeit von Nouruz, dem persischen Neujahr, finden die beiden Trost und Hoffnung in Ritualen, im Tanz und in der Poesie. Poetisch ist auch der Film selbst: Mit starken visuellen Symbolen und viel Liebe zum Detail bringt Niasari Licht und Zuversicht in ein dunkles Kapitel ihrer eigenen Geschichte, unterstrichen durch die berührenden schauspielerischen Leistungen von Zar Amir Ebrahimi und Selina Zahednia. Der Film wurde in die Zeit der jüngsten Proteste im Iran hineingeboren und ist somit nicht nur eine Hommage an die Resillienz der eigenen Mutter, sondern an die Stärke aller Frauen im Iran. / Elena Stern
«Yannick» von Quentin Dupieux
Quentin Dupieux ist ein Arbeitstier. 2022 brachte der französische Musiker und Komödienregisseur hinter «Au poste!» (2018), «Le daim» (2019) und «Mandibules» (2020) mit «Incroyable mais vrai» und «Fumer fait tousser» gleich zwei Filme in die Kinos – und 2023 geht es im gleichen Takt weiter: Beim bevorstehenden Filmfestival von Venedig wird sein «Daaaaaali!» Premiere feiern; in Locarno hatte er die rund einstündige Farce «Yannick» im Gepäck. Dort steht in einer dürftig besuchten Theateraufführung plötzlich ein Zuschauer namens Yannick (Raphaël Quenard) auf, um sich über die mangelnde Qualität der Aufführung zu beklagen – und kurz darauf bricht die Hölle los. Dupieux‘ Ode an den populistischen Widerstand à la Gilets jaunes? Eine Satire auf den grassierenden Antiintellektualismus und das Verständnis von Kunst, das nicht über den Tellerrand des eigenen Geschmacks hinausblickt? Eine Verballhornung prätentiöser Künstler*innen? Alles zusammen? «Yannick» liefert jede Menge Gesprächsstoff und noch mehr Lacher – und ist damit Dupieux‘ bester Film seit Jahren. / Alan Mattli
«Theater Camp» von Molly Gordon und Nick Lieberman
Theater-Kids und Musical-Lovers, dieser Film ist für euch. Mit «Theater Camp» geben Nick Lieberman und Schauspielerin Molly Gordon («Booksmart») ihr Regiedebüt. Als Joan, die Gründerin eines Theater-Ferienlagers in Upstate New York, unerwartet ins Koma fällt, droht diesem das Aus. Es liegt nun an den langjährigen Camp-Mitarbeitenden Rebecca Diane (Gordon) und Amos (Ben Platt) sowie Joans ahnungslosem Sohn und Möchtegern-Influencer (Jimmy Tatro), das Lager wieder auf Erfolgskurs zu bringen. «Theater Camp» ist eine Liebeserklärung an die Welt des Theaters, die aber auch über sich selbst lachen kann. Die fiktive Dokumentarfilm-Perspektive wird zwar nicht ganz konsequent durchgezogen, doch der Film hält das Publikum inhaltlich so stark auf Trab, dass man ihm die teils unklare Struktur verzeiht. Referenzen zu Bühnenheldinnen wie Barbra Streisand und Meryl Streep sowie Musical-Lieblinge wie «Wicked» und «Sweeney Todd» dürfen natürlich nicht fehlen. Doch auch wer bei diesen Titeln nur fragend die Stirn runzelt: In «Theater Camp» finden alle eine herzerwärmende Geschichte, deren kleine und grosse Darsteller*innen einen zum Lachen bringen, selbst wenn man nicht jeden Querverweis versteht. / Elena Stern / CH-Kinostart: 7.9.2023
Mexikanische Wochen in der Retrospektive
Das Retrospektiven-Programm des Locarno Film Festivals ist immer ein ganz besonderes Highlight – und 2023 war keine Ausnahme. In Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse und dem Arthouse-Streamingdienst MUBI wurde das Publikum unter dem Titel «Espectáculo a diaro» («Jeden Tag Spektakel») mit dem populären mexikanischen Kino der Vierziger-, Fünfziger- und Sechzigerjahre vertraut gemacht. Und die Perlen waren dicht gestreut: Schon am ersten Tag des Festivals durfte Alberto Isaacs oscarnominierte Olympia-Dokumentation «Olimpiada en México» (1969) in restaurierter Fassung mit ihren atemberaubenden Aufnahmen von sportlichen Höchstleistungen begeistern. Doch der Fokus lag eindeutig auf dem klassischen Erzählkino, das im Mexiko des mittleren 20. Jahrhunderts nach Hollywood-Vorbild florierte: hier ein raffiniert erzählter Studiofilm von Luis Buñuel («El río y la muerte», 1954), dort eine schwarze Komödie über einen mörderischen Tierpräparator («El esqueleto de la señora Morales», 1960); hier eine düster-melodramatische Stefan–Zweig-Verfilmung («Amok», 1944), dort eine fiktionalisierte Sportler-Biografie («El gran campeón», 1949); hier ein überkandidelter Gruselfilm irgendwo zwischen Dreissigerjahre-Monsterstreifen und italienischem Giallo («El espejo de la bruja», 1960), dort Batwoman, die eine Reihe von Morden an mexikanischen Wrestlern aufzuklären versucht («La mujer murciélago», 1968). Neuentdeckungen waren also auch bei der diesjährigen Retrospektive vorporgrammiert. / Alan Mattli
«Anatomie d’une chute» von Justine Triet
Spätestens als «Anatomie d’une chute» am diesjährigen Filmfestival von Cannes die Palme d’Or gewann, war die Vorfreude auf den Film von «Sibyl»-Regisseurin Justine Triet gross. Nachdem ihr Mann auf mysteriöse Art und Weise aus dem Fenster ihres gemeinsamen Hauses fällt und dabei stirbt, gerät Sandra (Sandra Hüller) bald in den Verdacht, etwas damit zu tun zu haben. Vor Gericht ist es ihr sehbehinderter Sohn Daniel (Milo Machado-Graner), der über den verhängnisvollen Tag aussagen muss – wobei er sich im Laufe der Verhandlung an immer mehr Details der Beziehung seiner Eltern herantastet. Was nach einem altbekannten Gerichtsdrama klingt, wird von Triet auf geschickte Art und Weise mit neuer Tiefe versehen. Trotz langer Dialogsequenzen schafft sie es, die Spannung konstant hochzuhalten, was nicht zuletzt auch Hauptdarstellerin Sandra Hüller («Toni Erdmann») zu verdanken ist, die mit ihrem Schauspiel die Präzision hinter dem Plot eindrücklich vermittelt. «Anatomie d’une chute» zeigt eindrücklich, dass ein bis ins Detail durchdachtes, sprachlich überzeugendes Skript, kombiniert mit starken schauspielerischen Leistungen, sehr viel zum Gelingen eines Films beitragen kann. / Elena Stern / CH-Kinostart: 9.11.2023
«Family Portrait» von Lucy Kerr
Die Videokünstlerin Lucy Kerr feierte in Locarno mit «Family Portrait» ihr Langspielfilmdebüt. Das experimentelle Drama um eine Familie, die einfach nicht dazu kommt, ihr Gruppenfoto für die bevorstehende Weihnachtskarte zu schiessen – derweil sich im Hintergrund langsam COVID-19 bemerkbar macht –, macht es dem Publikum mit seiner langsamen Erzählweise und dem zunehmenden Zerfall seiner narrativen Struktur zwar nicht einfach; doch die Texanerin Kerr empfiehlt sich mit ihren eigenwilligen Bildkompositionen und ihrem anregend desorientierenden Sounddesign als spannende neue Stimme im amerikanischen Slow Cinema. Von ihr dürfte in Zukunft noch zu hören sein. / Alan Mattli
«Critical Zone» von Ali Ahmadzadeh
«Critical Zone» zeigt Amir auf Achse in der Unterwelt Teherans, wo er den verlorenen Seelen der Stadt begegnet. Eine Nacht im Leben eines Drogendealers, der in seinem Auto in die vergessenen Ecken einer Stadt unterwegs ist, ist im Grunde nichts, was man nicht schon in anderen Filmen gesehen hätte. Doch Regisseur Ali Ahmadzadeh vermischt dokumentarisch geprägte Elemente mit experimentellen Einstellungen und schafft so ein Bild der iranischen Hauptstadt, das einer manchmal ganz stillen, manchmal ganz lauten Rebellion gleichkommt. Der Film wurde heimlich und ohne Bewilligung in den Strassen Teherans gedreht; Ahmadezadeh riskierte damit sein Leben. «Critical Zone» lässt einen mit vielen Fragen zurück, weshalb man ein paar Stunden braucht, um ihn richtig setzen zu lassen. Der Film wurde in Locarno verdient mit dem Pardo d’Oro ausgezeichnet, wohl nicht zuletzt in Anbetracht des Kontexts, in dem der Film entstanden ist. / Elena Stern
–––
Titelbild: (C)FOTOPEDRAZZINI.CH
No Comments