Yorgos Lanthimos‘ Romanadaption «Poor Things» mag die Höhen von «The Favourite» nicht erreichen. Trotzdem besticht der bizarre Kostümfilm mit seinem schrägen Humor und den faszinierenden Fragen, die er über das kulturelle Erbe des 19. Jahrhunderts aufwirft.
1976 veröffentlichte der französische Philosoph und Kulturtheoretiker Michel Foucault mit «Wir Viktorianer» einen seiner einflussreichsten Texte. Darin argumentiert er unter anderem, dass sich das Selbstverständnis der modernen westlichen Gesellschaft nicht zuletzt aus der historisch zweifelhaften Überzeugung speist, man sei heute liberaler, offener und sexuell freizügiger als die Menschen vor einem oder zwei Jahrhunderten. Mit anderen Worten: Auch Ende des 20. Jahrhundert geistert die Vergangenheit – und nicht zuletzt die viktorianische Ära, das Zeitalter von Kapitalismus und Bourgeoisie – noch als Gradmesser für die eigene Aufgeschlossenheit durch das kollektive Bewusstsein.
Mit ähnlichen Ideen spielt der vor ein paar Jahren verstorbene schottische Schriftsteller Alasdair Gray in seinem 1992 erschienenen Roman «Poor Things». Hier wird in sich selber immer wieder widersprechenden Passagen von der jungen Bella Baxter, ihrer mysteriösen Herkunft, ihrer Ehe und ihrer schrittweisen Erlangung einer eigenen Identität und Sexualität erzählt – eine vielschichtige Frauenbiografie, in der ein individueller Reifeprozess, wie man ihn aus der viktorianischen Literatur bestens kennt, auf moderne literarische Spielereien trifft.
«‹Poor Things› platzt in eine Welt, in der hitzige Debatten über historische Deutungshoheit, Eurozentrismus und die kolonialen Wurzeln vieler wissenschaftlicher Disziplinen geführt werden und der reaktionäre Backlash gegen Queerness und das Aufbrechen festgefahrener Geschlechtervorstellungen in vollem Gange ist.»
Und nun, 47 Jahre nach Foucault, 31 nach Gray, adaptieren Regisseur Yorgos Lanthimos («The Killing of a Sacred Deer», «The Favourite») und Drehbuchautor Tony McNamara («The Favourite», «Cruella») diese Ideen – und Grays Roman – für eine Gegenwart, die sich mit dem vermeintlichen Erbe der Viktorianer anscheinend ebenso schwertut wie mit der körperlichen und sexuellen Aufgeklärtheit. Ihr «Poor Things» platzt in eine Welt, in der hitzige Debatten über historische Deutungshoheit, Eurozentrismus und die kolonialen Wurzeln vieler wissenschaftlicher Disziplinen geführt werden und der reaktionäre Backlash gegen Queerness und das Aufbrechen festgefahrener Geschlechtervorstellungen in vollem Gange ist.
Im Zentrum dieser freien, erzählerisch vereinfachten Verfilmung steht einmal mehr Bella Baxter (Emma Stone), eine junge Frau mit, so scheint es, dem Geist eines Kleinkindes, die in einer steampunkigen Version des späten 19. Jahrhunderts in einem komfortablen Londoner Stadthaus lebt. Dieses teilt sie mit einer Haushälterin (Vicki Pepperdine), einer ganzen Reihe bizarrer Tierchimären – vom Hund mit Ganskopf bis zum Bulldoggenhuhn ist alles dabei – und ihrem Ziehvater, dem angesehenen Chirurgen Godwin Baxter (Willem Dafoe), der für sie «God» heisst.
Schon in den ersten Minuten ihres Films kokettieren Lanthimos und McNamara mit der schieren referenziellen Dichte von Grays Stoff: Die gerade für die europäische Geschichte so zentrale alttestamentarische Verquickung von Vater- und Gottfiguren wird fast schon plump in den Raum gestellt; Bella erweist sich schnell als Geistesverwandte von Victor Frankensteins wissbegierigem Monster; Willem Dafoes herrlich überhöhtes Narben-Make-up lässt ihn gleich selber wie Frankensteins aus Leichenteilen zusammengebastelte Kreatur aussehen; und sogar der Name Godwin zeigt irgendwie inzestuös in diese Richtung, war es doch auch jener von «Frankenstein»-Autorin Mary Shelleys Vater. Kurzum: In «Poor Things» sind die Frankensteins die Erb*innen der westlichen Welt.
«In ‹Poor Things› sind die Frankensteins die Erb*innen der westlichen Welt.»
Unverhofften Zutritt in dieses kuriose Familiengefüge verschafft sich der Medizinstudent Max McCandles (Ramy Youssef): Er soll für Godwin Bellas Lernfortschritt dokumentieren. Und obwohl Bella auf Godwins Anordnung das Haus nicht verlassen darf, ist ihre Entwicklung beeindruckend: Mit den properen Manieren, dem Verständnis für angemessenes Alltagsverhalten sowie dem allgemeinen Masshalten hapert es zwar noch ein wenig; aber schon bald nach Bellas Entdeckung der Selbstbefriedigung ist «God» bereit, sie zu Max‘ Ehefrau zu machen. Doch die beiden Herren haben die Rechnung ohne die Frau gemacht, über die sie zu verfügen glaubten: Bella brennt kurzerhand mit dem schmierigen Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) durch, um mit seiner Hilfe die grosse weite Welt zu entdecken.
Ab hier entspinnt sich ein filmischer Schelmenroman, in dem klar definierte Zeitabläufe und realistische geografische Schauplätze vollends über Bord geworfen werden. Wie lange Bella, deren Selbstbestimmtheit den sexistischen Duncan zunehmend überfordert, auf ihrer von sexuellen und kulinarischen Eskapaden geprägten Studienreise weilt, ist genauso unklar wie die exakten Gesetzmässigkeiten des fantastisch angehauchten Mittelmeerraums, den sie durchquert: Im stets von pink funkelnden Dunstschwaden verhangenen Lissabon rattern die Seilbahn-Trams über den Köpfen der Passant*innen; der Luxusliner, auf dem Bella von Hanna Schygulla («Die Ehe der Maria Braun», «Peter von Kant») und Jerrod Carmichael («Neighbors») in Literatur und Nihilismus instruiert wird, pflügt an unmöglichen Greenscreen-Himmelsschauspielen vorbei; die geschichtsträchtigen Städte Athen und Alexandria sind kaum mehr als winzige symbolisch aufgeladene Inseln.
«Diese freizügige, frivole Mischung aus Steampunk-Roadmovie, selbstreflexiver Sexkomödie und historischer Satire über die Prätentionen der ‹Alten Welt› ist denn auch so unterhaltsam, wie man es vom Duo Lanthimos und McNamara erwarten durfte.»
Diese freizügige, frivole Mischung aus Steampunk-Roadmovie, selbstreflexiver Sexkomödie und historischer Satire über die Prätentionen der «Alten Welt» ist denn auch so unterhaltsam, wie man es vom Duo Lanthimos und McNamara erwarten durfte. Gerade die Gegenüberstellung der direkten Bella und dem in so vielen gesellschaftlichen Konventionen verhafteten Duncan, dass er selbst beim «Autsch»-Sagen nachdenken muss, zieht immer wieder herrlich schräge Slapstick-Momente nach sich – auch dank Emma Stone und Mark Ruffalo, deren theaterhafte Darbietungen McNamaras bewusst künstliche Dialoge optimal umsetzen.
Einen schwereren Stand haben hingegen Willem Dafoe und Ramy Youssef: Ersterer, weil vor lauter Maske und haarsträubender Hintergrundgeschichte nicht mehr allzu viel Platz für schauspielerische Akzente übrig geblieben zu sein scheinen; Letzterer, weil seine Hauptaufgabe lediglich darin besteht, mit erstauntem Gesichtsausdruck auf Bellas Kapriolen zu reagieren. Und auch McNamaras Spezialität, Lacher zu erzeugen, indem er Figuren in historischen Kostümen moderne Redewendungen, Satzbetonungen und Schimpfwörter von sich geben lässt, ist ein Kniff, der im Laufe eines 141-minütigen Films riskiert, sich irgendwann totzulaufen.
Ja, selbst Lanthimos‘ Zusammenarbeit mit Kameramann Robbie Ryan kann die Höhen von «The Favourite» nicht überbieten. Zwar wird auch hier wieder eifrig mit extremen Weitwinkel-Einstellungen und kreisrunden Fischaugen-Bildern gespielt – welche zudem mit digitalen Effekten und einem Wechsel von körnigem Schwarzweiss zu intensiv saturierter Farbe angereichert werden –, doch visuell wirklich Beeindruckendes fördert dieses eklektische ästhetische Konzept nur in einer Handvoll Szenen zutage.
«Visuell wirklich Beeindruckendes fördert Lanthimos‘ eklektisches ästhetisches Konzept nur in einer Handvoll Szenen zutage.»
Darüber hinaus suggeriert die Tatsache, dass Lanthimos hier nicht nur die grosse Tanzszene aus seinem letzten Film, sondern auch die berühmte weisse Bodenbeleuchtung aus «2001: A Space Odyssey» (1968) und «A Clockwork Orange» (1971) praktisch unverändert übernimmt, dass der bekennende Stanley–Kubrick-Fan seine aktuellen gestalterischen Vorlieben fürs Erste an ihre Grenzen getrieben an.
Doch selbst mit diesen Abstrichen ist «Poor Things» ein Werk, mit dem es sich allemal auseinanderzusetzen lohnt. Der Film mag die Ideen, die er, inspiriert von Gray, Foucault und anderen, anreisst, nicht alle konsequent zu Ende denken; aber der Umstand, dass er sie überhaupt anreisst – und gleichzeitig sein ziemlich breites Publikum fast zweieinhalb Stunden lang an den Freuden des «unrealistischen» Fabulierens teilhaben lässt –, ist an sich schon einiges wert.
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Kinostart Deutschschweiz: 18.1.2024
Filmfakten: «Poor Things» / Regie: Yorgos Lanthimos / Mit: Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, Ramy Youssef, Christopher Abbott, Kathryn Hunter, Margaret Qualley, Hanna Schygulla, Jerrod Carmichael, Margaret Qualley, Suzy Bemba, Vicki Pepperdine / Irland, Grossbritannien, USA / 141 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © Searchlight Pictures. All Rights Reserved.
«Poor Things» leistet sich gewisse Unsauberkeiten, die man sich von Yorgos Lanthimos so nicht gewohnt ist. Doch der Film ist lustig und thematisch ansprechend genug, um diese Defizite wettzumachen.
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