Knisternde Romantik, betörende Bilder und keine Männer: Céline Sciamma ist mit dem Kostümdrama «Portrait de la jeune fille en feu» ein Meisterwerk gelungen.
Warum dreht sich Orpheus nach Eurydike um? Der heroische Sänger aus der griechischen Mythologie hat vom Totengott Hades klare Anweisungen bekommen: Wenn er sich auf dem schmalen Weg, der von der Unterwelt zurück ins Reich der Lebenden führt, von Ungeduld übermannen lässt und über seine Schulter schaut, um seine geliebte Nymphe zu sehen, ist diese dazu verdammt, für immer in Hades‘ Fängen zu bleiben. Eine der beiden Hauptfiguren von «Portrait de la jeune fille en feu» hat da ihre eigene Theorie: Was, wenn Orpheus den Eindruck, den seine Angebetete in seiner Erinnerung hinterlassen hat, für wertvoller hält als Eurydike selbst? Was, wenn er sich in der Sage bewusst für das Bild und gegen die Person entscheidet?
Der neue Film der französischen Regisseurin Céline Sciamma («Tomboy», «Bande des filles») zeigt sich fasziniert von nuancierten Feinheiten wie dieser, vom Lesen zwischen den Zeilen, dem Verstehen dessen, was ungesagt bleibt. Schon die Prämisse von Sciammas Originaldrehbuch verspricht ein komplexes Geflecht von Blicken, Gesten und Geheimnissen: Irgendwann im 18. Jahrhundert wird die Malerin Marianne (Noémie Merlant) auf eine bretonische Insel beordert, wo sie ein Porträt der reservierten Adligen Héloïse (Adèle Haenel) malen soll, damit sich deren Zukünftiger – der Ex-Verlobte ihrer verstorbenen Schwester – ein Bild von ihr machen kann. Doch Héloïse ist von der Situation verständlicherweise wenig begeistert und weigert sich, Modell zu sitzen. Also bleibt Marianne nichts anderes übrig, als die junge Dame auf ihren Spaziergängen zu begleiten und sie im Versteckten aus dem Gedächtnis zu malen.
Seit «Portrait de la jeune fille en feu» beim Filmfestival von Cannes die Kritik im Sturm eroberte, wurden viele Vergleiche angestellt: Sciamma habe einen neuen «La vie d’Adèle» (2013) gedreht, anderswo war von einem neuen «Call Me by Your Name» (2017) die Rede. Nicht nur ist das eine reduktive Art und Weise, um über Queer-Romanzen zu sprechen; die Verkürzung wird der subtilen Schönheit dieses Films nicht im Geringsten gerecht.
Unaufdringliche Scharfsichtigkeit
Sciamma braucht keine grossen Gesten – und schon gar keine ausgedehnten, voyeuristischen Sexszenen, wie sie Abdellatif Kechiche in «La vie d’Adèle» zelebrierte –, um dem Publikum die grossen Emotionen zu vermitteln, die sich hier hinter den strengen Sittenvorstellungen des vorrevolutionären französischen Adels verbergen. Sie inszeniert die langsame Annäherung von Marianne und Héloïse mit der unaufdringlichen Scharfsichtigkeit einer Meisterregisseurin – und zwei herausragenden Hauptdarstellerinnen: Jede Interaktion ist gespickt mit vielsagenden Blicken und Bewegungen; der ganze Film, so ruhig er auch ist, knistert mit Romantik und Sehnsucht. Wie wirkungsvoll diese Zurückhaltung ist, erweist sich in jenen erschütternden, magischen Momenten, in denen Sciamma die emotionale Schraube anzieht: von der titelgebenden Sequenz – einem surreal-betörenden Miniatur-Meisterstück – bis zu den letzten fünf Minuten, in denen Motiv- und Figurenzeichnung ein herzzerreissendes Ende finden.
«Sie inszeniert die langsame Annäherung von Marianne und Héloïse mit der unaufdringlichen Scharfsichtigkeit einer Meisterregisseurin – und zwei herausragenden Hauptdarstellerinnen: Jede Interaktion ist gespickt mit vielsagenden Blicken und Bewegungen; der ganze Film, so ruhig er auch ist, knistert mit Romantik und Sehnsucht.»
Selbst wenn sie es dabei beliesse und das Ganze «nur» Romanze bliebe, hätte man es hier mit einem der besten Werke des Jahres zu tun. Doch in Claire Mathons Kameraeinstellungen, von denen jede einem Gemälde gleicht, verhandelt Sciamma auf bewährt feinsinnige Weise eine eminent politische Thematik. Denn «Portrait» gewährt seinen Protagonistinnen – einer von der Kunstwelt belächelten Malerin und einer Adligen, die zum Spielball männlicher Machtpolitik geworden ist – eine (kostüm)filmuntyptische Frauengeschichte: Marianne, Héloïse und das gewitzte Dienstmädchen Sophie (Luàna Bajrami) bleiben fast zwei Stunden lang unter sich; Männer sind hier im Wesentlichen nicht vertreten. Damit legt Sciamma zum einen ein pointiertes Gegennarrativ zu einer Geschichtsschreibung vor, die seit Jahrtausenden den männlichen Blickwinkel privilegiert. Zum anderen ist diese alternative Perspektive für ein Kinopublikum, das sich 125 Jahre Männerdominanz vor und hinter der Kamera gewohnt ist, eine Wohltat.
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Kinostart Deutschschweiz: 24.10.2019
Filmfakten: «Portrait de la jeune fille en feu» / Regie: Céline Sciamma / Mit: Noémie Merlant, Adèle Haenel, Luàna Bajrami, Valeria Golino / Frankreich / 120 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Cineworx
Eine intensive Romanze mit politischer Relevanz: «Portrait de la jeune fille en feu» ist einer der ästhetischsten, bewegendsten und besten Filme des Jahres.
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