Im Herbst 1975 zog ein Sturm durch New England: Die lebende Musiklegende Bob Dylan setzte sich mit seinen berühmten Freunden aus dem Greenwich Village in einen Tourbus und klapperte mit der Hippie-Varieté-Stunde «Rolling Thunder Revue» den Nordosten der USA ab. Mit seinem Netflix-Dokumentarfilm über diesen merkwürdigen Rock-Roadtrip legt Martin Scorsese ein definierendes Dylan-Porträt vor.
Es war eine seltsame Zeit, auf der ganzen Linie: Mitte der Siebzigerjahre liegt die amerikanische Psyche – inmitten der Vorbereitungen zum 200-Jahr-Jubiläum der Unabhängigkeit – in Trümmern. Präsident Richard Nixon ist in Schande zurückgetreten; im Weissen Haus sitzt an seiner Statt ein blasser Verwalter, der auf keinem Wahlzettel gestanden hatte. Der Vietnamkrieg – geprägt von Lügen, Kriegsverbrechen und sinnlos verheizten jungen Männern – ist verloren. Die Wirtschaft ist am Boden; es grassiert die Arbeitslosigkeit.
Und auch Bob Dylan, die schillernde musikalische Leitfigur der Sechzigerjahre, war längst nicht mehr derselbe: Seine Zeit als akustischer Protestsänger («Blowin’ in the Wind», «The Times They Are a-Changin’») war Geschichte; und nachdem er mit Songs wie «Like a Rolling Stone» und «Visions of Johanna» den Rock revolutioniert hatte, zog er sich nach einem Motorradunfall 1966 aus der Öffentlichkeit zurück. Als Martin Scorseses Musikdokumentation – nach «No Direction Home» (2005) seine zweite über Dylan – einsetzt, ist der eigensinnige Star gerade damit fertig, sich mit The Band – man kennt sie aus Scorseses «The Last Waltz» (1978) – ins Tourleben zurückzutasten.
Wie ist aus diesen mikro- und makrohistorischen Kontexten die «Rolling Thunder Revue» entstanden? Was war die Inspiration dafür, Beatnik-, Folk- und Gegenkultur-Ikonen wie Joan Baez, Allen Ginsberg, Joni Mitchell, Ramblin‘ Jack Elliott und Patti Smith zusammenzutrommeln und auf unprofitabel kleinen Bühnen geschminkt und kostümiert dreistündige Hommagen an Amerikas mythische Vaudeville-Vergangenheit zu zelebrieren?
«I don’t remember a thing about it. I wasn’t even born.» – Bob Dylan
Einzelne Momente mögen Antworten suggerieren: hier die unfokussierte Nostalgie eines kriselnden Landes vor einer ebenso unpassenden wie unausweichlichen Jubiläumsfeier, dort das absehbare Dahinscheiden der Hippie-Kultur. Dem Ganzen liegt ein elegischer Tonfall zu Grunde – das Gefühl, einem letzten grossen Hurra beizuwohnen. Doch weder Scorsese noch Dylan können – oder wollen – sich festlegen: «Rolling Thunder was about nothing», sagt Letzterer rückblickend im Interview. «I don’t remember a thing about it. I wasn’t even born.» Man hatte Spass daran, zusammen zu reisen und zu musizieren – aber das war es auch schon in Sachen Beweggründe.
Anders als «No Direction Home» ist «Rolling Thunder Revue» keine reine Faktensammlung. In Interviews treten zwar Direktbeteiligte wie Baez, Musikjournalist Larry «Ratso» Sloman oder Rockabilly-Kultfigur Ronnie Hawkins in Erscheinung, aber auch frei erfundene Persönlichkeiten: Jack Tanner, ein angeblicher Politiker, entstammt Robert Altmans Mockumentary-Miniserie «Tanner ’88» (1988) – damals wie heute gespielt von Michael Murphy. Das reichhaltige Behind-the-Scenes-Filmmaterial, das faszinierende Einblicke in den Tournee-Alltag gewährt, wird einem europäischen Regisseur namens Stefan Van Dorp zugeschrieben. In Wirklichkeit sind die Bilder aber Teil von Dylans unveröffentlichtem vierstündigem Filmepos «Renaldo and Clara»; Van Dorp ist ein Mensch gewordenes Pseudonym, gespielt von Bette Midlers Ehemann Martin von Haselberg.
«‹Rolling Thunder Revue› erkundet auch einen essenziellen Teil von Dylans künstlerischer Persona: das Verwässern, Vervielfältigen und Verneinen der eigenen Identität.»
Dieses vertrackte Spiel mit der Realität, dieses gewollt schludrige Vermischen von Fakt und Fiktion – durchsetzt von atemberaubenden Konzertmitschnitten («Isis», «The Lonesome Death of Hattie Carroll», «Hurricane») – ist nicht nur ganz im Sinn und Geist der «Rolling Thunder Revue», sondern erkundet auch einen essenziellen Teil von Dylans künstlerischer Persona, der allzu oft von seinen poetischen Qualitäten überschattet wird: das Verwässern, Vervielfältigen und Verneinen der eigenen Identität, insbesondere auf der Bühne. Fast schon programmatisch, Dylans rückblickende Kritik nach einer Szene, in der er mit Bob-Dylan-Maske die Bühne betrat: «We should’ve worn more masks.»
«Ein unbeschreibliches Porträt einer unbeschreiblichen Tournee.»
Dieses Genie als Performer und Performance-Künstler – als selbsternannter «Song and Dance Man» – ist ein Aspekt, den im Kino vor Scorsese wohl nur D. A. Pennebaker («Dont Look Back») und Todd Haynes («I’m Not There») so richtig zu inszenieren wussten. Allein schon deshalb gehört «Rolling Thunder Revue» – ein unbeschreibliches Porträt einer unbeschreiblichen Tournee – zu den besten Werken, die je über Dylan gemacht wurden.
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Jetzt auf Netflix Schweiz
Filmfakten: «Rolling Thunder Revue: A Bob Dylan Story by Martin Scorsese» / Regie: Martin Scorsese / Mit: Bob Dylan, Joan Baez, Martin von Haselberg, Larry Sloman, Sharon Stone, Michael Murphy / USA / 142 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Netflix
Mal informativ, mal irreführend – und die einzige Konstante ist die Musik. «Rolling Thunder Revue» ist ein nahezu perfektes Porträt einer der faszinierendsten Episoden in Bob Dylans Karriere.
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