Ein Jahr im Leben einer Mittelklassefamilie im Mexico City der frühen Siebzigerjahre: Aus dieser unscheinbaren Prämisse macht «Gravity»-Regisseur Alfonso Cuarón in «Roma» atemberaubendes Kino.
In den 17 Jahren, die seit «Y tu Mamá también», dem letzten spanischsprachigen Projekt von Alfonso Cuarón, vergangen sind, ist der Mexikaner zu einem regelrechten Genre-Experten mutiert. 2004 drehte er den dritten Teil der «Harry Potter»-Franchise, 2006 den dystopischen Neo-Klassiker «Children of Men», und 2014 erhielt er für das visuell brillante, erzählerisch dubiose Weltraum-Abenteuer «Gravity» den Oscar für die beste Regie.
Und nun also «Roma» – ein autobiografisch inspiriertes Stück Zeitgeschichte mit spanischen und mixtekischen Dialogen, dessen suggestiver Erzählstil mehr an Mike Leigh («Happy-Go-Lucky», «Mr. Turner») als an Hollywood erinnert. Es ist ein zutiefst persönlicher Film, wie man ihn sich nach einem 700-Millionen-Dollar-Erfolg wie «Gravity» (buchstäblich) leisten kann.
Doch Cuarón, der neben Drehbuch, Regie und Produktion auch für den Schnitt und – erstmals – die Kameraarbeit verantwortlich war, rückt nicht sich selber ins Zentrum, sondern die langjährige Haushaltshilfe seiner Familie. Hier bekommt die junge indigene Frau, grossartig gespielt von Yalitza Aparicio, das Pseudonym Cleo; und sie durchlebt zwischen 1970 und 1971 ein in mehrfacher Hinsicht turbulentes Jahr.
Das Resultat von Cuaróns Hommage ist ein beeindruckender Balanceakt zwischen intimer Charakterstudie und mitreissendem Zeitbild. Ob Ehekrise, ungewollte Schwangerschaft oder tödliche Strassenschlacht um die Zukunft Mexikos – immer wieder verschiebt sich der Fokus vom Alltäglichen zum Historischen und wieder zurück, ohne den Eindruck zu hinterlassen, einer der beiden Aspekte käme bei diesem Wechselspiel zu kurz.
Dies rührt womöglich auch daher, dass «Roma» ein Lehrstück in Sachen Inszenierung ist. In den meisten Szenen – gerade jenen, die in den belebten, zeitlich authentisch augestatteten Strassen von Mexico City spielen – ziehen mindestens drei Dinge gleichzeitig den Blick auf sich, was den Film unglaublich lebendig wirken lässt. Insofern ist das Ganze auch eine Liebeserklärung an Cuaróns Heimatstadt, die, dem sinnträchtigen Titel entsprechend, zu einem modernen Rom umgedeutet wird und damit, wie James Joyces Dublin in «Ulysses», einen legendären Anstrich verpasst bekommt.
«Was Cuarón hier geschaffen hat, ist ein mustergültiger Kinofilm. Wer den Kinobesuch auslässt, verpasst eine einmalige Chance.»
Doch es ist eine ganz fundamentale Eigenschaft, die «Roma» zu einem der besten Filme dieses Jahrzehnts macht: Was Cuarón hier geschaffen hat, ist ein mustergültiger Kinofilm. Seien es die berauschenden Schwarzweissbilder, die faszinierenden Kamerafahrten oder die überwältigende Geräuschkulisse, die Cuarón heraufbeschwört – wer den Kinobesuch auslässt, weil der Film schon ab dem 14. Dezember auf Netflix verfügbar ist, verpasst eine einmalige Chance. Für Meisterwerke wie «Roma» wurde die Grossleinwand erfunden.
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Kinostart Deutschschweiz: 6.12.2018 / Netflix-Start Schweiz: 14.12.2018
Filmfakten: «Roma» / Regie: Alfonso Cuarón / Mit: Yalitza Aparicio, Marina de Tavira, Nancy García, Jorge Antonio Guerrero / Mexiko, USA / 135 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Netflix
Emotional und visuell umwerfend – Kino in Reinform.
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