Einer der grossen indischen Kinoevents des Jahres ist jetzt auch auf Netflix verfügbar – und der Hype ist absolut gerechtfertigt. S. S. Rajamoulis «RRR» ist ein Actionspektakel, wie man es schon lange nicht mehr gesehen hat.
«RRR» war ein Ereignis mit Ansage: 2018 wurde offiziell angekündigt, dass S. S. Rajamouli, der gefeierte Regisseur hinter dem zweiteiligen Historienepos «Baahubali» (2015/2017), in seinem neuesten Projekt mit den Schauspielern Ram Charan und N. T. Rama Rao Jr. (kurz: Jr NTR) zusammenspannen würde – zwei der grössten Superstars, welche die telugusprachige Filmindustrie, das in der südindischen Metropole Hyderabad beheimatete Tollywood, in den letzten 20 Jahren hervorgebracht hat. (Ein kleiner Wermutstropfen für angehende Tollywood-Fans: Auf Netflix ist «RRR» nicht in den Telugu- und Tamil-Originalversionen, sondern nur in der Hindi-Synchronisation verfügbar.)
Die Vorfreude in Indien war riesig, der schliesslich zum definitiven Filmtitel beförderte Codename «RRR» – eine Kombination aus den Namen Rajamouli, Rama Rao und Ram – programmatisch: Wovon auch immer der Film handeln würde, er würde allermindestens eines sein – ein maximalistisches Tollywood-Gigantentreffen.
«Der schliesslich zum definitiven Filmtitel beförderte Codename ‹RRR› – eine Kombination aus den Namen Rajamouli, Rama Rao und Ram – ist programmatisch: Wovon auch immer der Film handeln würde, er würde allermindestens eines sein – ein maximalistisches Tollywood-Gigantentreffen.»
Diese grundlegende Erwartung bestätigt sich noch bevor der Titel des Films eingeblendet wird. Zugegeben, bis zur Titelnennung vergehen ganze 40 Minuten – doch in dieser Zeit demonstriert Rajamouli auf furioseste Art und Weise, worauf sich sein Publikum gefasst machen muss.
Kapitel eins, «The StoRy», etabliert den zentralen Konflikt von «RRR»: Im Jahr 1920 wird Malli (Twinkle Sharma), ein kleines Mädchen aus der indigenen Gond-Volksgruppe, vom bösen britischen Kolonialgouverneur Scott Buxton (Ray Stevenson) und dessen sadistischer Ehefrau Catherine (Alison Doody) entführt und in ihr Anwesen in Delhi verschleppt.
Kapitel zwei, «The FiRe», führt Ram Charan ein: Er spielt, inspiriert vom indischen Revolutionär Alluri Sitarama Raju (1897–1924), den im Dienste der kolonialen Polizei stehenden A. Rama Raju, der während seines atemberaubenden ersten Auftritts im Alleingang eine Schlägerei gegen Hunderte von Kontrahenten gewinnt.
Es ist diese Kampferprobtheit, die ihm den Auftrag einbringt, N. T. Rama Rao Jr. zu stoppen. Denn dieser spielt, ebenfalls historisch inspiriert, Komaram Bheem, einen Vertreter der Gond, der dazu auserwählt wurde, Malli zu retten und Gouverneur Scott zur Strecke zu bringen. Dass Bheem dieser Aufgabe mehr als nur gewachsen ist, macht der Beginn des dritten Kapitels, «The WateR», unmissverständlich deutlich: Hier ringt der muskelbepackte Jr NTR in den Wäldern ausserhalb von Delhi mit einem ausgewachsenen (CGI-)Tiger.
Doch wie es das Schicksal will, müssen Ram und Bheem gemeinsam eine spektakuläre Rettungsaktion bestreiten, die so waghalsig ist, dass sie letzten Endes kaum eine andere Wahl haben, als dickste Freunde zu werden. Bühne frei für ein revolutionäres Drama, in dem inbrünstig um Freundschaft, Liebe und Freiheit gekämpft wird.
«‹RRR› wartet mit einer ganzen Reihe fantasiereicher, sich an schierer aberwitziger Überspitztheit konstant übertrumpfender Actionsequenzen auf.»
Und wie hier gekämpft wird! «RRR» wartet mit einer ganzen Reihe fantasiereicher, sich an schierer aberwitziger Überspitztheit konstant übertrumpfender Actionsequenzen auf: Rams Massenschlägerei, Bheems Tigerjagd, ihre unfassbar coole Reaktion auf eine Zugsexplosion, die schliesslich in der Titeleinblendung gipfelt – sie sind bloss das Vorspiel eines Films, in dem britische Soldaten mit Leoparden beworfen und Motorrädern vermöbelt werden, in dem die Helden mit Granatenpfeilen und Brunnenschläuchen in die Schlacht ziehen, in dem Rajamouli die Frage aufwirft, warum Kino-Kampfszenen nicht öfter vom Huckepack Gebrauch machen.
Doch es ist nicht allein dieses fulminant inszenierte Zelebrieren massentauglicher Filmgewalt, das «RRR» zu einem so mitreissenden Erlebnis macht. Die Kämpfe, die Ram und Bheem ausfechten, sind erzählerisch felsenfest verankert, und zwar in ganz konkreten dramatischen und emotionalen Konflikten: Scott und seine rassistischen Schergen müssen überlistet und besiegt, Malli befreit und nach Hause gebracht werden – eine Mission, die stellvertretend für den indischen Widerstand gegen das britische Joch steht.
Und auch die beiden Protagonisten haben, abgesehen von ihren konkurrierenden Zielen, ihre ganz persönlichen Motivationen: Während Ram verzweifelt versucht, ein Versprechen zu halten, das er einst seiner Verlobten Sita (Alia Bhatt) machte, verliebt sich Bheem in Scotts Nichte Jenny (Olivia Morris) – eine Konstellation, die unter anderem eine unvergessliche, ohrwurmverdächtige Tanzszene nach sich zieht.
«Diese Kombination aus überlebensgrossem Leinwandspektakel und aufrichtigem, figurenzentriertem Geschichtenerzählen ist erfrischend – nicht zuletzt, weil sie diversen bedauerlichen Konventionen zuwiderläuft, die derzeit besonders in Hollywood grassieren.»
Diese Kombination aus überlebensgrossem Leinwandspektakel und aufrichtigem, figurenzentriertem Geschichtenerzählen ist erfrischend – nicht zuletzt, weil sie diversen bedauerlichen Konventionen zuwiderläuft, die derzeit besonders in Hollywood grassieren. Anders als ein «Spider-Man: No Way Home» (2021) verlässt sich «RRR» nicht in erster Linie auf den Wiedererkennungswert etablierter Figuren, um Publikumsreaktionen zu generieren. Im Unterschied zu so manchem zeitgenössischen US-Blockbuster, sei es Marvels «Shang-Chi» (2021), Disneys «Free Guy» (2021) oder Netflix‘ «Red Notice» (2021), sehen sich Rajamouli und sein Vater V. Vijayendra Prasad in ihrem Drehbuch nicht gezwungen, dramatische oder emotionale Momente mit selbstreflexiven Einschüben ironisch zu brechen. Der Unterhaltungswert von «RRR» kommt aus dem Stoff heraus, nicht aus Anspielungen und Franchisen-Kontexten.
Ein unvorteilhafter Kontext, in den sich Rajamoulis Film aber tatsächlich stellen lässt, ist der politische. Denn obwohl hier auf der erzählerischen Ebene ausschliesslich das historische Feindbild der brutalen britischen Kolonialherrschaft in Indien bemüht wird, bedient sich «RRR» gerade in seiner letzten halben Stunde bei einer religiösen und kulturellen Symbolik, die jener ähnelt, welche bei den Anhänger*innen des hinduistischen Nationalismus, der faschistoiden Hindutva-Ideologie, beliebt ist – einer Bewegung, der auch Premierminister Narendra Modi alles andere als abgeneigt ist und die in den letzten Jahren vor allem durch islamfeindliche Gewaltakte von sich reden machte.
«Es seit allen wärmstens empfohlen, auf Netflix einen Blick zu riskieren – weil es sich lohnt, über den Tellerrand der gewohnten Unterhaltungskonventionen hinauszublicken und dabei die dynamische indische Filmindustrie im Allgemeinen und Tollywood im Speziellen zu entdecken; und weil ‹RRR› der unterhaltsamste und spektakulärste Actionfilm seit langem ist.»
Wohlverstanden, «RRR» geriert sich nicht als Hindutva-Manifest. Die Netflix-Version enthält sogar eine Texttafel, in der sich die Macher*innen entschieden von einer politisch expliziten Interpretation distanzieren und betonen, die Privilegierung einer «Ethnie, Kaste, Glaubensrichtung oder Stammeszugehörigkeit» läge ihnen ebenso fern wie die Diffamierung jedweder Tradition oder Religion. Doch wie diverse indische Kritiker*innen festgehalten haben, ist es wohl unvermeidlich, dass sich jene Publikumssegmente, die sich mit Hindutva identifizieren, durch gewisse Entscheidungen in der Bild-, Musik- und Kostümgestaltung bestätigt fühlen werden.
«RRR» ist also kein gänzlich ungetrübtes Vergnügen; allermindestens ist Rajamoulis Film eine Erinnerung an das propagandistische Potenzial, das im Kino steckt. Und dennoch sei es allen wärmstens empfohlen, auf Netflix einen Blick zu riskieren – weil es sich lohnt, über den Tellerrand der gewohnten Unterhaltungskonventionen hinauszublicken und dabei die dynamische indische Filmindustrie im Allgemeinen und Tollywood im Speziellen zu entdecken; und weil «RRR» der unterhaltsamste und spektakulärste Actionfilm seit langem ist.
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Jetzt auf Netflix Schweiz
Filmfakten: «RRR» / Regie: S. S. Rajamouli / Mit: Ram Charan, N. T. Rama Rao Jr., Ray Stevenson, Ajay Devgn, Alia Bhatt, Olivia Morris, Alison Doody / Indien / 185 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Netflix
«RRR» liefert aufrichtige Emotionen, aberwitzige Action und mitreissendes Spektakel und ermutigt dazu, mehr von S. S. Rajamouli, Ram Charan und N. T. Rama Rao Jr. zu sehen.
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