«Ruäch – Eine Reise ins jenische Europa» von Andreas Müller und Simon Guy Fässler
Die «Jenischen» sind Angehörige einer Bevölkerungsgruppe mit eigener Sprache, eigener Kultur und eigener Geschichte. Durch jahrzehntelange Ausgrenzung und Diskriminierung sind viele von ihnen heute sesshaft, obwohl das nicht ihrer Lebensweise entspricht. Dass ein kleines Schweizer Filmteam für «Ruäch – Eine Reise ins jenische Europa» Jenische aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Frankreich begleiten und filmen durfte, ist dem Umstand zu verdanken, dass sie über eine Dauer von fast sieben Jahren ein Vertrauen aufbauen konnten. Denn dieses Volk lebt lieber im Verborgenen und möchte nicht auffallen – und das aus gutem Grund.
Jenische werden in Österreich abschätzig auch «Karner» («die in Karren leben»), «Dörcher» («Bettler») oder «Laninger» («fahrendes Volk») genannt. Als Fahrende üben sie Berufe wie Scherenschleifer*in, Schrott- und Antiquitätenhändler*in oder Musiker*in aus. In «Ruäch – Eine Reise ins jenische Europa» zeigen uns die Regisseure Andreas Müller und Simon Guy Fässler Szenen aus dem jenischen Leben: Ein Kärntner Messerschleifer führt seinen Sohn in dieses Gewerbe ein; später stehen sie gemeinsam am Fluss und fischen; und den Kindern wird beigebracht, wie sie nachts durch den Wald wieder nach Hause finden. Das «nach Hause kommen» ist die eigentliche Thematik der Jenischen, denn als fahrendes Volk sind sie überall zu Hause.
Doch gleichzeitig ist «Zuhause» ein aufgeladener Begriff. Im 20. Jahrhundert nahmen Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung der Jenischen zu. In der Schweiz wurden jenische Familien ab den 1920er Jahren vom «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse», das zur Stiftung Pro Juventute gehörte, förmlich auseinandergerissen, da alles Jenische getilgt werden sollte. Kinder wurden in Heimen und Pflegefamilien untergebracht und Jugendliche in Anstalten gesperrt. Auch im Holocaust wurden die Jenischen wie Juden, Roma und Sinti verfolgt, in Konzentrationslager verschleppt und umgebracht.
Obwohl man sich mittlerweile an Aufarbeitung versucht und die jenische Sprache seit 1997 als territorial nicht gebundene Sprache in der Schweiz geschützt und gefördert wird, wirken diese Traumata nach. Dass die Jenischen weitestgehend sesshaft geworden sind, hat heute auch eher mit behördlichen Auflagen zu tun als mit ihrem Wunsch nach Sesshaftigkeit.
Entsprechend sind Fässler und Müller daran interessiert, auch diese Schattenseiten des jenischen Lebens einzufangen. Da ist zum Beispiel Isabelle in Frankreich, deren Haus von den Behörden ständig auf Sicherheitsstandards überprüft wird, während sie selbst die ganze jenische Gemeinschaft zusammenzuhalten versucht. Und wir lernen Lisbeth aus Graubünden kennen, die kettenrauchend und zögerlich von ihrer traumatischen Jugend erzählt – und wie viele andere ihren Kummer im Alkohol ertränkt.
«Die Regisseure begleiten diese Menschen über mehrere Jahre hinweg, und dieser Zeit ist es geschuldet, dass sie auch etwas mehr Einblick in ihr Leben gewähren. Und doch erfährt man in dieser Dokumentation nicht sehr viel über sie.»
Die Regisseure begleiten diese Menschen über mehrere Jahre hinweg, und dieser Zeit ist es geschuldet, dass sie auch etwas mehr Einblick in ihr Leben gewähren. Und doch erfährt man in dieser Dokumentation nicht sehr viel über sie – einerseits, weil sie vielleicht von Kindheit an gelernt haben, nicht über ihre Herkunft zu sprechen, und andererseits, weil man sich aufgrund der Vergangenheit und der aktuellen Vorurteile vielleicht dafür schämt.
Das ist denn auch das Problem des Films, der mit viel Herzblut entstanden ist: Man kommt diesen Menschen nicht näher als gewissen «Stadtoriginalen» aus Zürich. Sie bleiben unter sich und reden nur ungern über ihre Vergangenheit und die Geschichte ihrer Vorfahren. Dem Publikum bleibt es trotz der unterschiedlichen Geschichten verwehrt, einen intimen Einblick in die jenische Kultur zu erlangen. Der Zusammenhang der verschiedenen Geschichten ist kaum zu erkennen, und die Vielfalt der jenischen Lebensweise ist schwierig zu erfassen. Da hilft es auch wenig, dass die Dokumentation einen grossen Fokus auf das musikalische Kulturgut legt, das wie eine Randerscheinung wirkt, die das Leben der Bevölkerungsgruppe kaum widerspiegelt.
«Dem Publikum bleibt es trotz der unterschiedlichen Geschichten verwehrt, einen intimen Einblick in die jenische Kultur zu erlangen.»
Das ist schade, denn trotz jahrelanger Recherche wirkt das Resultat fast so anekdotisch wie Elisabeth T. Spiras ORF-Reportagereihe «Alltagsgeschichten» (1985–2006) – und das war sicher nicht so gewollt. Die Dokumentation ist aber dennoch empfehlenswert – wenn man sich vorher mit seiner Thematik auseinandersetzt. Denn der Film selbst verwehrt einen einfachen Zutritt zum Kern seines Anliegens.
–––
Kinostart Deutschschweiz: 31.8.2023
Filmfakten: «Ruäch – Eine Reise ins jenische Europa» / Regie: Andreas Müller, Simon Guy Fässler / Schweiz / 118 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Frenetic Films AG
In «Ruäch» versuchen Andreas Müller und Simon Guy Fässler, das Leben der «Jenischen» einzufangen, ohne es zu interpretieren. Ob es uns ihnen näherbringt, bleibt allerdings offen.
No Comments