Wie kann sich ein Mann seinen Platz in einem extrem weiblich geprägten Milieu erkämpfen, ohne das klassische Rollenbild zu sehr zu hinterfragen und ohne sich selbst dabei aufzugeben? In «Sage-Homme» von Jennifer Devoldère stolpert ein junger Mann durch Zufall in den Hebammenjob, weil er die Aufnahmeprüfung zum Medizinstudium nicht geschafft hat und nun eine zeitlich begrenzte Alternative braucht, um es nochmals zu versuchen.
Der 19-jährige Léopold (Melvin Boomer) schämt sich zutiefst, die Aufnahmeprüfung zum Medizinstudium nicht geschafft zu haben, und schreibt sich aus Verzweiflung in die Hebammenschule ein, um später als Quereinsteiger seinen ursprünglichen Weg zu gehen. Nur widerwillig lässt er sich auf dieses Projekt ein, lümmelt als einzige männliche Person in der letzten Reihe des Klassenzimmers herum und empört sich über die rosarote Bereichskleidung, die er, wie alle anderen im Praktikum, anziehen muss.
Auf der Entbindungsstation ist die erfahrene Hebamme Nathalie (Karin Viard) für ihn zuständig und fordert den gelangweilten Léo heraus. Nathalies selbstbewusstes Auftreten, aber auch ihr Einfühlungsvermögen und ihr fachliches Können, erlauben es ihm, die Skepsis gegenüber dem Hebammenberuf nach und nach abzubauen – denn wenn er sich nicht auf Nathalie und die Ausbildung einlässt, dann ist auch der Traum des Medizinstudiums dahin.
Léos alleinerziehender Vater (Steve Tientcheu) sowie seine drei Brüder wundern sich allmählich über den ungewöhnlichen Lernstoff und die nächtlichen Einsätze an der Uni, derweil sich Léo selbst über Nathalies anscheinend aktives Liebesleben wundert, obwohl sie bereits über 50 Jahre alt ist. Und nicht zuletzt wundert er sich auch über sich selbst, da er Gefallen an seiner Kurskollegin Fatou (Tracy Gotoas) findet, aber nicht weiss, wie er ihr näherkommen könnte.
Nathalie bringt ihm bei, wie man Babys zur Welt bringt und sie nach der Geburt liebevoll versorgt, erklärt ihm aber auch trotzig, dass «schliesslich eine Frau an einer Vagina hängt» – und eben nicht auf diese zu reduzieren sei. Es sind solche Lektionen, wie auch ihr gegensätzliches Leben, welche die Freundschaft der beiden wachsen lässt: Léo hat keine Mutter, Nathalie hat kein gutes Verhältnis zu ihren erwachsenen Kindern.
Vor diesem Hintergrund verhandelt «Sage-Homme» diverse Problematiken öffentlicher Gesundheitseinrichtungen – etwa die Konvention, dass man sich lieber ans Protokoll hält, als strukturelles Versagen zu hinterfragen. Ungeschönt zeigt der Film auch, was es bedeutet, als Auszubildende*r keine kompetente Nathalie als Mentorin zu haben, als Lernende*r wie der letzte Dreck behandelt und in traumatischen Situationen alleingelassen zu werden.
«Dass der schwere Alltag einer Entbindungsstation, getragen von Pflegenden, Ärzt*innen und Hebammen, so authentisch eingefangen wurde, ist dem Umstand zu verdanken, dass echte Hebammen nicht nur als Mentorinnen am Set mit dabei waren: Zwei von ihnen übernahmen auch gleich eine Rolle im Film.»
Dass der schwere Alltag einer Entbindungsstation, getragen von Pflegenden, Ärzt*innen und Hebammen, so authentisch eingefangen wurde, ist dem Umstand zu verdanken, dass echte Hebammen nicht nur als Mentorinnen am Set mit dabei waren: Zwei von ihnen übernahmen auch gleich eine Rolle im Film. Die Handgriffe sitzen entsprechend perfekt; und sogar eine echte Geburt durfte gefilmt werden.
Regisseurin Jennifer Devoldère, die auch das Drehbuch mitverfasst hat, stellt sich hier bewusst der klassischen Problematik der Ungleichheit im Arbeitsleben – allerdings in umgekehrter Form: Was, wenn ein Mann in eine berufliche Frauendomäne eindringt? Und was, wenn man als junger Mensch in einem körperlich und geistig derart herausfordernden Job nicht adäquat begleitet wird?
Genau das ist Léos Drama. Nathalie fängt ihn auf, fordert ihn heraus, vermittelt ihm Strukturen und Wissen, hilft ihm dabei, charakterlich zu wachsen und – vielleicht – seine Berufung zu finden. Doch irgendwann ist Nathalie weg, und ihre Nachfolgerin hat kein Interesse an Schüler*innen, die den fix geplanten Tagesablauf stören.
«Devoldère, die durch ein Krankenhauspraktikum zu ‹Sage-Homme› inspiriert wurde, ist es gelungen, einen authentischen Einblick in die herausfordernede Welt der Hebammen mit all ihren Facetten zu gewähren.»
Inmitten dieser Krise beginnt sich Léo auch zu fragen, warum sein Vater nie über die jung an Krebs verstorbene Mutter spricht. So werden neben den organisierten Strukturen einer Ausbildungsstätte für Hebammen auch familiäre Konstrukte – und die Zusammenhänge zwischen den beiden Sphären, der Familie und der Medizin – aufgebrochen und hinterfragt.
Devoldère, die durch ein Krankenhauspraktikum zu «Sage-Homme» inspiriert wurde, ist es gelungen, einen authentischen Einblick in die herausfordernede Welt der Hebammen mit all ihren Facetten zu gewähren. Die Geschichte mag als Komödie getarnt sein – und es gibt tatsächlich sehr witzige Situationen im Film, wo so einige Klischees aufeinandertreffen –, aber es bleibt bei komödiantischen Momentaufnahmen: Die Geschichte macht sich über niemanden lustig, und das ist gut so.
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Kinostart Deutschschweiz: 7.9.2023
Filmfakten: «Sage-Homme» / Regie: Jennifer Devoldère / Mit: Karin Viard, Melvin Boomer, Tracy Gotoas, Steve Tientcheu / Frankreich / 104 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Frenetic Films AG
In Jennifer Devoldères «Sage-Homme» mischt ein junger Mann den weiblich dominierten Hebammenberuf auf: mutig, authentisch, berührend und witzig.
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