Basierend auf einer realen Gerichtsverhandlung, erzählt die Dokumentarfilmerin Alice Diop in ihrem Spielfilmdebüt «Saint Omer» eine ebenso beklemmende wie faszinierende Geschichte über persönliche und kollektive Schuld.
Dass «Wahrheit» ein äusserst schwammiger Begriff ist, mit dem sehr viel Schindluder getrieben werden kann, weiss wohl niemand besser als Dokumentarfilmschaffende: Das Medium Film verdankt seinen Erfolg nicht zuletzt der Tatsache, dass es die Welt mehr oder minder «realistisch» darstellen kann – und Dokumentationen fügen dieser Lebensnähe das allermindestens implizite Versprechen hinzu, ihrem Publikum «authentische», «wahre» Geschichten zu erzählen. Was aber im allgemeinen Diskurs allzu gerne vergessen geht, ist, dass auch dokumentarische Werke Blickwinkel, Standpunkte und Narrative auf Kosten anderer privilegieren: Dokumentarfilme sind ebenso manipulativ wie Spielfilme – aber eben auf subtilere Art und Weise.
Entsprechend überrascht es nicht, dass es eine langjährige Dokumentarisitin ist, die sich in «Saint Omer» mit der Spannung zwischen persönlicher Voreingenommenheit und angeblich unzweideutiger Wahrheit auseinandersetzt – und mit der Frage, was diese Spannung für ein Land wie Frankreich bedeutet, in dem das Vermächtnis kolonialer Weltanschauungen tagtäglich auf die Realität der postkolonialen Gesellschaft trifft.
«Dokumentarfilme sind ebenso manipulativ wie Spielfilme – aber eben auf subtilere Art und Weise.»
Seit bald 20 Jahren fühlt die senegalesischstämmige Französin Alice Diop in ihren Non-Fiction-Filmen ihrem Heimatland auf den Zahn: Ein Jahr nach den Banlieue-Unruhen von 2005 etwa kehrte sie in «Clichy pour l’exemple» (2006) ins Epizentrum der «Émeutes» zurück, um nachzuforschen, ob die von der Regierung gemachten Versprechen an die Bevölkerung inzwischen eingelöst worden waren. In «La mort de Danton» stellte sie die Frage, wie «postkolonial» ein Land sein kann, das sich Schwarze Theaterschauspieler*innen noch immer nur in konventionell «Schwarzen» Rollen vorstellen kann. «Nous» (2021) ist, ausgehend von der Pendlerzuglinie RER B, ein Porträt von Paris, seiner Peripherie und dem Zustand des französischen Zusammengehörigkeitsgefühls.
Und auch «Saint Omer», Diops Spielfilmdebüt, fusst auf wahren Begebenheiten: 2016 wurde im nordfranzösischen Saint-Omer der gebürtigen Senegalesin Fabienne Kabou der Prozess gemacht, weil sie drei Jahre zuvor ihre 15 Monate alte Tochter getötet hatte, indem sie sie an einem Strand ablegte und von der Nordseeflut davontragen liess. Diop wohnte der Gerichtsverhandlung aus einem Impuls heraus bei, war fasziniert vom Aufeinanderprallen der angeklagten Immigrantin und dem Justizsystem des französischen Staates und beschloss in der Folge, ihr Fiction-Debüt um dieses Erlebnis herum zu konstruieren.
In «Saint Omer» ist es die Literaturprofessorin und Schriftstellerin Rama (Kayije Kagame), welche in die titelgebende Ortschaft reist, um den Prozess gegen die mutmassliche Kindsmöderin Laurence Coly (grossartig: Guslagie Malanda) mitzuverfolgen und Colys Geschichte zu einer modernen Nacherzählung des griechischen Medea-Mythos zu verarbeiten. Doch mit jedem vergehenden Tag wächst Ramas Unbehagen über die Rolle der scheinbar unbeteiligten, ausschliesslich intellektuell interessierten Zuschauerin, die sie in Colys Geschichte einnimmt: Denn wie die Angeklagte kommt auch sie aus einer senegalesischen Familie; auch sie erwartet ein Kind von ihrem weissen Lebenspartner (Thomas de Pourquery); und auch das schwierige Verhältnis zwischen Coly und ihrer Mutter (Salimata Kamate) kommt Rama mehr als nur bekannt vor.
«Was von der Allgemeinheit als ‹Wahrheit› akzeptiert wird, so der Film, ist ein Spiegel der gesellschaftlichen Hierarchie.»
In Diops Interpretation liegt die wahre Signifikanz der Kabou/Coly-Verhandlung weniger im vorliegenden Mordfall, dessen Tathergang die Angeklagte zu keinem Zeitpunkt abstreitet, als in der Biografie, die dazu geführt hat, und in den Reaktionen, die er im Gerichtssaal – unter den wachsamen Augen von Rama, Coly und und der um Sachlichkeit bemühten Richterin (Valérie Dréville) – provoziert.
Im Grunde erzählt «Saint Omer» nichts anderes als das bekannte Lied vom Privaten, das immer auch politisch ist: So erfolgreich Rama als Autorin auch sein mag, so sehr weiss sie um die Vorurteile der weiss dominierten französischen Gesellschaft, die in ihr eine «untypische», in Coly hingegen eine «typische» Schwarze Französin sieht. Dass Luc (Xavier Maly), der weisse Vater des getöteten Kindes, eine vertrauenswürdigere Informationsquelle ist als die von Hexerei und bösen Flüchen sprechende Coly, wird vor Gericht als gegeben hingenommen, obschon dies dem liberaldemokratischen Justizprinzip widerspricht.
Was von der Allgemeinheit als «Wahrheit» akzeptiert wird, so der Film, ist ein Spiegel der gesellschaftlichen Hierarchie. Indem Menschen wie Luc, der giftelnde Staatsanwalt (Robert Canterella) oder Colys Mutter, die ihrer Tochter alles «Senegalesische» austreiben wollte, die Angeklagte als wahnhafte, von «afrikanischem Aberglauben» bessessene, aber dennoch nicht minder kaltblütige Mörderin abstempeln, sprechen sie auch die rassistisch und frauenfeindlich geprägte soziale und politische Ordnung frei, von der sie selber profitieren.
Dieser Idee trägt Diop auch formal Rechnung. Ihr Film beginnt im fest etablierten Stil des frankophonen Naturalismus Marke Jean-Pierre und Luc Dardenne («Le Jeune Ahmed», «Tori et Lokita»): Claire Mathons Kamera ist viel in Bewegung, rückt den Figuren geradezu auf die Pelle, fängt mit viel natürlichem Licht und auf authentisch getrimmtem Dekor die «Realität» der Pariser Banlieue-Wohnung von Ramas Mutter (Adama Diallo Tamba) ein.
Doch nachdem Rama im Gerichtssaal von Saint-Omer Platz genommen hat, wechseln Diop, Mathon und Schnittmeisterin Amrita David die Schlagzahl: Die Kamera wird ruhig, fast schon starr; es dominieren lange Einstellungen auf Augenhöhe mit den Prozess-Protagonist*innen; die informellen familiären Gespräche der Eröffnungssequenzen weichen dem formellen, akribischen Abarbeiten des offiziellen Verhandlungsprozederes. Kurz: «Saint Omer» verlässt die Konvention des Authentizität suggerierenden Dardennes-Stils und wendet sich dem der beobachtenden Institutionsdokumentation à la Frederick Wiseman («National Gallery», «City Hall») zu.
«Als Dokumentaristin ist Diop mit dem manipulativen Potenzial des Wiseman’schen ‹Fly on the Wall›-Formats intim vertraut. Folgerichtig wird die atemberaubende erste Stunde des Films, in der das Kinopublikum die Causa Coly haarklein und maximal nüchtern vorgelegt bekommt, von einer zweiten Stunde ergänzt, in der das Dokumentarische ins Fiktive und das Fiktive ins Dokumentarische eindringt.»
Aber eben: Als Dokumentaristin ist Diop mit dem manipulativen Potenzial des Wiseman’schen «Fly on the Wall»-Formats intim vertraut. Folgerichtig wird die atemberaubende erste Stunde des Films, in der das Kinopublikum die Causa Coly haarklein und maximal nüchtern vorgelegt bekommt, von einer zweiten Stunde ergänzt, in der das Dokumentarische ins Fiktive und das Fiktive ins Dokumentarische eindringt – und in welcher ein Gerichtsfall zum Symbol für die Unmöglichkeit unbefangener Objektivität wird: Die Verhandlung wird dramatischer; die streng kodifizierten Rituale der französischen Justiz stossen an ihre Grenzen. Rama verliert die sichere Distanz zu Coly, die sie ursprünglich als abstrakte Medea-Figur inszenieren wollte; derweil ihr journalistisch-literarisches Interesse an Colys Mutter, mit der sie während der Prozesswoche eine fragile Freundschaft schliesst, sich mit ihrem eigenen Mutterkomplex zu überschneiden beginnt.
Zwar illustrieren gewisse Szenen in der zweiten Hälfte Diops fehlende Spielfilm-Erfahrung – gerade Rama bleibt angesichts ihrer zentralen Rolle etwas gar unscharf umrissen –, doch thematisch ist «Saint Omer» eine ungemein stringente, ästhetisch und erzählerisch wagemutige Angelegenheit. Vor dem Hintergrund seiner verehrten staatlichen Institutionen wird hier das moderne Frankreich – vielleicht sogar das postkoloniale Europa als Ganzes – mit all seinen Widersprüchen, Ungereimtheiten und Selbsttäuschungen konfrontiert: Die Tat von Fabienne Kabou/Laurence Coly ist keine unerklärliche Unmenschlichkeit; sie ist das Resultat einer gesellschaftlichen Kettenreaktion. Mit dem Schuldspruch der Täterin ist die grundlegende Problematik noch lange nicht aus der Welt geschafft.
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Kinostart Deutschschweiz: 2.3.2023
Filmfakten: «Saint Omer» / Regie: Alice Diop / Mit: Kayije Kagame, Guslagie Malanda, Valérie Dréville, Xavier Maly, Salimata Kamate, Robert Canterella, Aurélia Petit, Thomas de Pourquery / Frankreich / 122 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Cineworx GmbH
Eine Mordprozess als Mikrokosmos des postkolonialen Frankreichs: Alice Diops Spielfilmdebüt «Saint Omer» ist ein spannend erzähltes, raffiniert aufgezogenes, herausragend gespieltes Gerichtsdrama.
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