Das Geschwisterdrama «Schwesterlein» von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond wird für die Schweiz ins Rennen um den Fremdsprachen-Oscar 2021 gehen. Es ist eine grundsolide Wahl, die dennoch sinnbildlich für die anhaltende Kreativitätskrise des Schweizer Prestige-Filmschaffens steht.
Manchmal erinnert die Schweizer Filmszene ein wenig an «Fascht e Familie», Charles Lewinskys Kult-Sitcom, in der sich die etwas tüddelige Tante Martha, der Möchtegern-Theaterstar Hans Meier, die idealistische Bankangestellte Vreni und der verpeilte T-Shirt-Bemaler Flip zu einer Zwecks-WG zusammenschliessen. Denn auch in der hiesigen Kinolandschaft gibt es Tante Marthas (die altgedienten Doyens und Doyennes, die schon mitmischten, als die Schweiz ihren letzten Oscar gewann), Hans Meiers (die Verfechter*innen des europäischen Arthouse-Modus), Vrenis (die Geschichtenerzähler*innen mit Hollywood-Ambitionen) und Flips (die Jungen, Wilden und Alternativen).
«Manchmal erinnert die Schweizer Filmszene ein wenig an ‹Fascht e Familie›, Charles Lewinskys Kult-Sitcom, in der sich die etwas tüddelige Tante Martha, der Möchtegern-Theaterstar Hans Meier, die idealistische Bankangestellte Vreni und der verpeilte T-Shirt-Bemaler Flip zu einer Zwecks-WG zusammenschliessen.»
Wie bei Lewinsky buhlen diese hier auf engstem Raum um begrenzte Ressourcen – aber nicht um Essen und Warmwasser, sondern um die leidigen Subventionsgelder. Und wenn nicht gerade ein fieser Rolf Aebersold – eine No-Billag-Initiative, ein SRF-Sparkurs, ein Schweizer-Filmpreis-Skandal – die Existenzgrundlage der ganzen Gemeinschaft aufs Spiel setzt, hängt der Haussegen schief, weil jemand aus der Branche mal wieder Mist gebaut und sich in den Dienst der Politik gestellt oder zu einer allzu explosiven Äusserung verstiegen hat. Irgendwas ist immer.
Im Prinzip muss das nichts Schlechtes sein. Gerade in einer vergleichsweise überschaubaren Industrie, in der jede jeden kennt, haben Konflikt und Reibung das Potenzial, die Innovation anzuheizen. (Ganz zu schweigen davon, dass man als Schweizer Filmjournalist*in ohnehin um jeden Anlass zur Lokalberichterstattung froh ist.) Doch leider trifft auch hier der «Fascht e Familie»-Vergleich zu: Denn egal, was passiert – am Ende bleiben Martha, Hans, Vreni und Flip am ewig gleichen Küchentisch sitzen, und am Status quo ändert sich nichts.
Eine alljährliche Erinnerung an diesen Zustand liefert die Kür des Schweizer Oscarbeitrags, bei der eine Expert*innen-Jury entscheidet, welches Werk die Ehre erhält, von der Academy für die «Best International Film»-Kategorie in Betracht gezogen zu werden – und damit für einige Monate das nationale Filmschaffen auf der internationalen Bühne zu repräsentieren.
Heuer ist die Wahl auf «Schwesterlein» gefallen, ein Drama um die einstige Theaterautorin Lisa (Nina Hoss) und ihren leukämiekranken Zwillingsbruder, den erfolgreichen Bühnenschauspieler Sven (Lars Eidinger). Um für eine bevorstehende Inszenierung wieder zu Kräften zu kommen, reist Sven zu Lisa ins waadtländische Leysin, wo ihr Ehemann Martin (Jens Albinus) gerade die Chance erhalten hat, sein Engagement als Rektor einer internationalen Schule um fünf Jahre zu verlängern – obwohl er Lisa versprochen hat, so schnell wie möglich wieder nach Berlin zu ziehen.
Der Film von Stéphanie Chuat und Véronique Raymond, die mit «La petite chambre» 2010 schon ins Oscarrennen geschickt wurden, ist, in Anbetracht der Alternativen, ein würdiger Kandidat. Er ist eine merkliche Verbesserung gegenüber diversen seiner direkten Oscar-Vorgänger – insbesondere den biederen Vreni-Produktionen «Die göttliche Ordnung» (2017) und «Wolkenbruch» (2019) –, und der Qualitätsunterschied zu seinen qualifizierten Konkurrenten in diesem Jahr («Le milieu de l’horizon», «Mare», «Bruno Manser: Die Stimme des Regenwaldes») sowie dem erweiterten, aber letztlich nicht berücksichtigten Favoritenkreis («Platzspitzbaby», «Moskau einfach!») ist minim.
Eine solide Umsetzung
«Schwesterlein» ist eine solide Umsetzung einer bekannten dramatischen Affiche: Eine schwere Erkrankung entblösst die emotionalen Gräben eines scheinbar harmonischen Familiengefüges. Lisa fühlt sich in ihrer verbissenen Sorge um ihren Bruder von Martin nicht ernst genommen und wird von Sven zugleich daran erinnert, dass das Leben zu kurz ist, um die eigenen Träume unter den Scheffel eines anderen zu stellen. Martin merkt, dass ihm Ehefrau und Schwager immer fremder werden; derweil Kathy (Marthe Keller), die Mutter der Zwillinge, schwer daran zu tragen hat, alleine in Berlin zurückgelassen zu werden.
Starke Darbietungen von Nina Hoss, Lars Eidinger, Jens Albinus und Marthe Keller – vier der besten Darsteller*innen, die das deutschsprachige Kino derzeit zu bieten hat – heben ein unspektakuläres, gewollt theaterhaftes Drehbuch über den melodramatischen Durchschnitt, können letztlich aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Chuat und Reymond hauptsächlich vorgefasste Handlungselemente abhaken.
Das ist das Problem mit «Schwesterlein»: Das Ganze ist kompetent gemacht, hinkt aber – wie so viele andere Schweizer Produktionen – dem internationalen Kinogeschehen weit hinterher. Die Tragödie von Lisa und Sven wirkt wie ein Versuch, thematisch vergleichbaren Arthouse-Filmen aus Frankreich und Deutschland nachzueifern, deren Blütezeit schon länger zurückliegt: Die Echos eines «Halt auf freier Strecke» (2011) oder eines «Quelques heures de printemps» (2012) sind unüberhörbar.
«Die Tragödie von Lisa und Sven wirkt wie ein Versuch, thematisch vergleichbaren Arthouse-Filmen aus Frankreich und Deutschland nachzueifern, deren Blütezeit schon länger zurückliegt: Die Echos eines ‹Halt auf freier Strecke› oder eines ‹Quelques heures de printemps› sind unüberhörbar.»
Damit sind Chuat und Reymond nicht allein: Ob «Le milieu de l’horizon», «Bruno Manser», «Platzspitzbaby», «Moskau einfach!», «Die göttliche Ordnung» oder «Wolkenbruch» – sie alle wirken letztlich wie Reliquien aus einer vergangenen Zeit, wie Annäherungen an Formate, die in anderen Kontexten einst von Erfolg gekrönt waren, inzwischen aber längst überholt sind. Dass auch dieser Reaktionismus bisweilen ansprechende Werke hervorbringt, ist unbestritten. Doch man muss sich fragen, ob das grosse, «repräsentative» Schweizer Kino nicht zu mehr fähig ist. Im Moment wundert es jedenfalls nicht, dass die Schweiz seit 30 Jahren auf eine Fremdsprachen-Oscarnomination wartet.
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Kinostart Deutschschweiz: 3.9.2020
Filmfakten: «Schwesterlein» / Regie: Stéphanie Chuat, Véronique Reymond / Mit: Nina Hoss, Lars Eidinger, Jens Albinus, Marthe Keller, Thomas Ostermeier / Schweiz / 99 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Vega / Praesens Film
Inhaltlich bietet «Schwesterlein» altbekannte Drama-Versatzstücke. Diese werden von einem starken Cast aufgewertet, der den Film über den Durchschnitt hebt.
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