Der Zehnteiler «Shōgun», der ab dem 27. Februar auf Disney+ veröffentlicht wurde, erfüllt die höchsten Erwartungen. Mit beeindruckenden Bildern, fein gezeichneten Figuren sowie einer erfrischend gezügelten Erzählweise ist die Miniserie so etwas wie der poetische grosse Bruder von «Game of Thrones» – ohne Fantasy, dafür mit mehr Untertiteln.
Im Jahr 1600 treibt die «Erasmus» mit zerrissenen Segeln und einer halb verhungerten Mannschaft durch das tosende Meer. Das Schiff des britischen Navigators Major John Blackthorne (Cosmo Jarvis) ist das letzte mickrige Überbleibsel von fünf holländischen Schiffen, die aufbrachen, um die portugiesisch-spanische – und damit katholische – Herrschaft auf den asiatischen Meeren zu brechen. Dank einer glücklichen Fügung landen die letzten Überlebenden an der Küste Japans in einem Dorf. Doch statt Reichtum und Ehre erwarten sie dort grimmige Samurai, die dem mächtigen Fürsten Yoshii Toranaga (Hiroyuki Sanada) unterstehen.
Dieser muss sich gerade einer politischen Intrige von epischen Ausmassen erwehren, denn er gehört zu fünf gleichberechtigten Daimyō-Regenten, die der verstorbene Herrscher Taikō eingesetzt hat, um das von ihm hinterlassene Machtvakuum zu füllen, bis sein einziger erbberechtigter Sohn seine Nachfolge antreten kann. Da Toranaga von allen das engste Verhältnis zu Taikō hatte, fürchten die anderen vier Regenten, er könnte zu mächtig werden und verbünden sich gegen ihn. Da kommt dem gewieften Taktiker Toranaga das gestrandete Schiff mit seiner reichen Bewaffnung gerade recht, denn zahlenmässig ist er seinen Widersachern weit unterlegen.
Freunde von historischen Stoffen werden am Namen James Clavell kaum vorbeikommen. Der in Sydney geborene Autor machte sich im Hollywood der Fünfziger- und Sechzigerjahre durch sein Mitwirken am Drehbuch zu John Sturges‘ «The Great Escape» (1963) und seinem Solo-Skript zum Vincent–Price-Horrorklassiker «The Fly» (1958) einen Namen. Weltberühmt wurde er danach durch seine epischen Romane, in denen er ein ungemeines Verständnis für die Geschichte und die Kultur Asiens an den Tag legt – und bis heute als der erste westliche Autor gilt, dem es gelungen ist, Asien nicht aus der Sicht des Westens, sondern aus einer asiatischen Perspektive zu zeigen.
Teile dieser «Asien-Saga» – unter anderem «King Rat» (1962), «Tai-Pan» (1966) und «Noble House» (1981) – wurden wiederum erfolgreich für Kino und TV adaptiert. Clavells Opus magnum ist dabei sein 1975 veröffentlichter Abenteuerroman «Shōgun», der 1980 in einer fünfteiligen Miniserie etwas zu stark für ein westliches Publikum zurechtgebogen wurde, aber dank aufwendiger Produktion und Schauspielgrössen wie Richard Chamberlain und Akira–Kurosawa-Spezi Toshirō Mifune einen gewissen Kultstatus geniesst.
«Die Showrunner Rachel Kondo und Justin Marks haben nun den kitschigen, exotisierenden Staub von 1980 abgeklopft und sich für ihre 2024er-Adaption wieder mehr dem Roman und somit den japanischen Aspekten der Handlung angenähert.»
Die Showrunner Rachel Kondo und Justin Marks («Top Gun: Maverick») haben nun den kitschigen, exotisierenden Staub von 1980 abgeklopft und sich für ihre 2024er-Adaption wieder mehr dem Roman und somit den japanischen Aspekten der Handlung angenähert. Die fiktive Geschichte des englischen Seefahrers John Blackthorne, der sich im Japan des Jahres 1600 zwischen allen Fronten wiederfindet und dabei zum ersten westlichen Samurai aufsteigt, wird von Clavell ausufernd und von wahren historischen Begebenheiten und Figuren beeinflusst erzählt. Kondo und Marks tragen der Erzählweise Rechnung, indem sie sich genügend Zeit nehmen, das feudale Japan samt befremdlicher Eigenheiten von Leuten und Kultur einzufangen und auf dem Bildschirm zum Leben zu erwecken. Dabei nähern sie sich der «fremden» Kultur feinfühlig und respektvoll und zeigen dennoch ungeschönt den derben und von Disziplin und Ehrgefühl dominierten Alltag der japanischen Bevölkerung während dieser Epoche.
Das ist für die Zuschauer*innen zu Beginn genauso fremd und faszinierend wie für John Blackthorne. Cosmo Jarvis («Persuasion») spielt den Protagonisten herrlich grobschlächtig und trampelt von einem Fettnäpfchen ins nächste, was ihn mehrmals fast das Leben kostet. Doch irgendwann lernt er, sich in dem gänzlich fremden Land im richtigen Moment zurückzunehmen – und kann sich dank Mut und Bauernschläue beweisen und wird vom Spielball in einem Spiel mit ihm unbekannten Regeln zu einem Mitspieler, der seine Gegner herausfordert.
Und von denen gibt es reichlich. Vom grossen strippenziehenden Daimyō-Rat über die parasitären und profitgierigen portugiesischen Geistlichen – «Silence» (2016) lässt grüssen – bis hin zu den ehrgeizigen Sprösslingen und sonstigen Verwandten der grossen Lords – alle hoffen, dass nun ihre Stunde geschlagen hat, und wollen den grössten Vorteil aus den kritischen Zeiten des Umbruchs ziehen.
«Dass sich eine Liebesbeziehung zwischen Mariko und Blackthorne anbahnt, ist zwar absehbar, wird aber angenehm komplex und nachvollziehbar erzählt.»
Eine gewichtige Rolle kommt dabei der Übersetzerin Toda Mariko (Anna Sawai) zu, und das nicht nur, weil «Shōgun» das gesprochene Japanisch nicht synchronisiert, sondern untertitelt. Die gläubige Christin ist eine selbstbewusste, geheimnisvolle und entschlossene Frau, die Toranaga treu ergeben ist. Sie trägt die Last einer in Ungnade gefallenen Adelsfamilie mit sich und hat sich stark ihren Verpflichtungen als Ehefrau und Vasallin verschrieben. Doch das Auftauchen des Fremden mit seinen europäischen Ansichten lockt sie aus ihrem Schneckenhäuschen und lässt sie über ihre Bestimmung und ihren Platz in der ihr vertrauten Welt nachdenken. Dass sich eine Liebesbeziehung zwischen ihr und Blackthorne anbahnt, ist zwar absehbar, wird aber angenehm komplex und nachvollziehbar erzählt.
Über allem thront aber Yoshii Toranaga, der wahre Held der Geschichte. Er kämpft als Aussenseiter unter den Adligen für einen langfristigen Frieden im Land und ist so quasi der «Ned Stark» des feudalen Japans. Doch im Gegensatz zum gutmütigen Lord aus Westeros taktiert Toranaga geschickt, riskiert oft alles und ist bereit, grosse – und sogar gewaltige und fragwürdige – Opfer zu bringen, um den Frieden zu sichern. Hiroyuki Sanada («Army of the Dead») verleiht dieser ambivalenten Figur eine Präsenz, die eines Lords würdig ist.
«‹Shōgun› ist eine grandiose Neuadaption eines literarischen Klassikers und eine historische Serie vom Feinsten.»
Überhaupt fühlt sich «Shōgun» an wie der poetischere und reifere Bruder von «Game of Thrones» (2011–2019): Seien es die fantastischen, zum Eintauchen einladenden Schauwerte, die taktischen Schachzüge auf der politischen Bühne und später auch auf dem Schlachtfeld oder das Gefühl, dass niemand vor einem plötzliche Ableben gefeit ist – «Shōgun» ist eine grandiose Neuadaption eines literarischen Klassikers und eine historische Serie vom Feinsten.
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Jetzt auf Disney+
Serienfakten: «Shōgun» / Creators: Rachel Kondo, Justin Marks / Mit: Hiroyuki Sanada, Anna Sawai, Cosmo Jarvis, Tadanobu Asano, Takehiro Hira, Tommy Bastow, Fumi Nikaidō / USA / 10 Episoden à 53–70 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Shōgun ab 27. Februar 2024 exklusiv auf Disney+; genehmigt von FX Networks
Rachel Kondo und Justin Marks haben dem angestaubten TV-Klassiker «Shōgun» einen zeitgemässen Neuanstrich verpasst und eine Miniserie geschaffen, in die man nur zu gerne eintaucht.
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