Stell dir vor, du willst Kunst machen, aber du kommst vor lauter Leben nicht dazu: Kelly Reichardts «Showing Up» ist ein grossartiger Film über all die kleinen Ablenkungen, die tagtäglich über uns bestimmen.
Das Kino, vor allem das amerikanische, liebt Selbstverwirklichungsfantasien – Geschichten über Individuen, die es mit der Welt aufnehmen, vielleicht manchmal Rückschläge hinnehmen müssen, letzten Endes aber mit ihrer Vision, ihrem Kampfgeist, ihrem authentischen Selbst triumphieren. Die Tendenz ist in praktisch jedem Genre zu spüren, vom Biopic über den Actionfilm bis hin zur romantischen Komödie. Kelly Reichardt hingegen, ihres Zeichens eine der besten US-Filmemacher*innen der Gegenwart, dreht minimalistische Filme über die Tatsache, dass niemand nur nach der eigenen Pfeife tanzen kann, dass man als Individuum immer irgendwie im Kompromiss mit dem eigenen Umfeld lebt.
Sowohl ihr Debüt, das Anti-Roadmovie «River of Grass» (1994), als auch ihr thematisch vielleicht «kommerziellster» Film, das düstere Ökoterrorismus-Drama «Night Moves» (2013), handeln von romantisierten Rebellionen, die von Pragmatismus und interpersonellen Dynamiken moduliert werden. Doch auch der zärtlich-melancholische Camping-Ausflug «Old Joy» (2006), der unerbittliche Spätwestern «Meek’s Cutoff» (2010), die einfühlsame Montana-Anthologie «Certain Women» (2016), die stille Frontier-Tragikomödie «First Cow» (2019) – sie alle zeigen Protagonist*innen im Widerstreit mit den sie umgebenden Strukturen: mit kolonialen Vorurteilen, ökonomischen Zwängen und historisch bedingten Erwartungen an Freundschaft und Geschlechterrollen.
«Wendy and Lucy» (2008), einer von Reichardts populärsten Filmen, bringt die Spannung auf den Punkt: Sosehr die Titelfigur Wendy, eine Frau auf der Durchreise, ihre Hündin Lucy auch lieb hat, wenn das Geld nicht mehr reicht, um beide lebendig ans Ziel Alaska zu bringen, dann müssen schwere, dramatisch antiklimaktische, im Mainstreamkino eher verpönte Entscheidungen getroffen werden. (Keine Angst, der Hund überlebt.)

Michelle Williams in «Showing Up» / © Filmscience/A24
Im neu auf Netflix verfügbaren Drama «Showing Up» aus dem Jahr 2022 – bis zur Cannes-Premiere von «The Mastermind» im Mai noch die bislang jüngste Regiearbeit Reichardts – wendet die Filmemacherin ihr Verständnis für die unentrinnbaren Verstrickungen des Lebens auf die Kunst an. Im Zentrum der Erzählung steht Lizzy (Michelle Williams in ihrer vierten Reichardt-Rolle), eine freischaffende Keramik-Künstlerin, die sich ihr Geld damit verdient, als administrative Assistentin im Büro ihrer Mutter (Maryann Plunkett) am Oregon College of Art and Craft, einer kleinen Kunsthochschule in Portland, zu arbeiten. Was Lizzy im Moment vor allem brauchen könnte, ist die Ruhe, um sich auf ihre nächste Ausstellung vorbereiten zu können – doch genau jetzt wird sie natürlich überall anderweitig gebraucht: Ihre Mutter will sie am Bürotelefon, ihr Vater (Judd Hirsch) wird von seinen Untermieter*innen ausgenutzt, ihr Bruder (John Magaro) scheint sich unaufhaltsam auf eine Psychose zuzubewegen, und ihre nominell beste Freundin (Hong Chau), die aber auch ihre Vermieterin und professionelle Rivalin ist, betraut sie mit der Aufgabe, eine verletzte Taube wieder aufzupäppeln.
«Wenn Lizzys Geschichte eines klarmacht, dann, dass Kunst immer im Kontext von – und in Konflikt mit – all den lästig prosaischen Kleinigkeiten entsteht, mit denen man sich tagtäglich herumschlagen muss.»
Kunst ist, zumindest im kulturellen Bewusstsein, wohl die ultimative Form der Selbstverwirklichung. Kaum ein Film über den künstlerischen Schaffensprozess kommt ohne die Andeutung aus, dass das, was da kreiert wird, ein authentischer Ausdruck der innersten Seele des Künstlers oder der Künstlerin ist. «Showing Up» macht sich diesbezüglich aber keine Illusionen: Wenn Lizzys Geschichte, vom Versuch, sich die Zeit zum Arbeiten freizuschaufeln, bis zur Vernissage in der wunderbaren Schlusssequenz des Films, eines klarmacht, dann, dass Kunst immer im Kontext von – und in Konflikt mit – all den lästig prosaischen Kleinigkeiten entsteht, mit denen man sich tagtäglich herumschlagen muss, seien es nun hilfsbedürftige Verwandte, kaputte Boiler, die Eifersucht auf alle, die ihr Leben besser im Griff zu haben scheinen als man selbst, oder der Vogel mit dem gebrochenen Flügel, für den man sich dummerweise verantwortlich fühlt, weil die Verletzung die Schuld der eigenen Katze ist.
Entsprechend programmatisch ist die Frage, die Lizzy sich stellen muss, als eine ihrer Plastiken im Brennofen angekokelt wird: Verleugnen wir das Werk, weil es nicht so herausgekommen ist, wie wir es uns vorgestellt haben, oder akzeptieren wir seine Unvollkommenheit als Teil des kreativen Prozesses? Was gefährlich nach Grusskartenweisheit klingt, wird in Reichardts Händen, dank ihres konsequenten Verzichts auf unnötige Dramatik und übertriebene metaphorische Abstraktion, zu einer ernsthaften und anrührenden Anerkennung all der kleinen Dinge, die es nur selten in einen Film schaffen, ein (Künstler*innen-)Leben aber dennoch entscheidend beeinflussen.

Hong Chau und Michelle Williams in «Showing Up» / © Filmscience/A24
Diese allzu oft unsichtbaren Alltäglichkeiten sicht- und fassbar zu machen, ist eine der grossen Stärken von Reichardts Kino, und «Showing Up» steht ihren besten Werken diesbezüglich in nichts nach. Lizzys frustrierend profane Probleme dürften vielen Zuschauer*innen ebenso vertraut vorkommen wie die von Michelle Williams‘ mal grummlig-ironischer, mal introvertiert-empathischer Performance wunderbar repräsentierte Tatsache, dass man zwar immer wieder sein Bestes gibt, manchmal aber einfach nicht den Nerv dafür hat, dem Leben und seinen Stolpersteinen mit souveräner Gemütsruhe und wohlüberlegter Strategie zu begegnen. Man weiss, dass man mehr für die eigene Familie tun könnte, dass man der besten Freundin gerade etwas zu schnippisch vorbeigekommen ist, dass man die sich auftürmenden Arbeiten früher hätte angehen können, dass man energischer für die eigenen Bedürfnisse hätte eintreten sollen, dass man doch irgendwie die Kapazität haben sollte, noch mehr noch besser zu machen – aber am Ende kommt einem halt doch das Leben in die Quere.
«Unsichtbare Alltäglichkeiten sicht- und fassbar zu machen, ist eine der grossen Stärken von Reichardts Kino, und ‹Showing Up› steht ihren besten Werken diesbezüglich in nichts nach.»
Für Reichardt und ihren regelmässigen Drehbuchpartner Jon Raymond sind diese inneren Konflikte aber weder ein Symptom für eine mentale Blockade, die Lizzy am endgültigen Erfolg hindert, noch ein fataler Fehler, an dem schliesslich Lizzys Freund- und Verwandtschaften zugrunde gehen. Sie sind vielmehr das universelle Hintergrundrauschen, mit dem letztlich jede*r fertigwerden muss – sogar die von Hong Chau («Watchmen», «The Whale») mit herrlich passiv-aggressiver Lieblichkeit gespielte Jo, die sich, jedenfalls aus Lizzys Sicht, vor lauter Musse kaum retten kann.
Inszeniert wird das alles mit der für Reichardt typischen Mischung aus trockenem Humor, viel emotionaler Sorgfalt und einem feinen Sinn fürs Detail. Die episodische Handlung zeigt Lizzy, wie sie versucht, ihre diversen persönlichen Brände zu löschen, was Reichardt, Raymond und ihre Darsteller*innen immer wieder dazu nutzen, um die Absurdität menschlicher Kommunikation auszuloten: So lässt sich «Showing Up» Zeit, um die Beziehung zweier Figuren nicht nur durch den Inhalt der Dialoge, sondern auch durch das Ungesagte zwischen den Zeilen zu etablieren – einen subtil gequälten Gesichtsausdruck, ein Zögern bei der Formulierung einer Frage, eine etwas allzu lässige Körperbewegung, die spezielle Weise, auf die man versucht, die Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken, das man aus Höflichkeit nicht direkt anzusprechen wagt.

© Filmscience/A24
Das ist mitunter tragisch, anderswo von leiser Komik durchtränkt, sehr oft beides zugleich. Natürlich ist es traumatisch, wenn Lizzy mitansehen muss, wie ihr Bruder Sean langsam seinen Halt in der Realität verliert – doch weil sein Verfolgungswahn schon so kleinlich geworden ist, dass er seine Nachbar*innen beschuldigt, seine Fernsehantenne manipuliert zu haben, schwingt da bei Michelle Williams und John Magaro («Past Lives», «September 5») eben auch ein unfreiwilliges Lächeln mit.
«Egal, was man macht – Hauptsache, man tut es gewissenhaft.»
Und über allem steht die bedachte kleine Geste, von Kameramann Christopher Blauvelt («Mid90s», «May December») in grossartigen Nahaufnahmen eingefangen: vom Herrichten eines Kunstwerks bis hin zum Verbinden eines Taubenflügels. Auch das fügt sich nahtlos ein in Reichardts Vision einer von Ablenkungen geprägten kreativen Existenz: Egal, was man macht – Hauptsache, man tut es gewissenhaft. Insofern entbehrt es nicht einer gewissen bittersüssen Poesie, dass «Showing Up» drei Jahre nach der Schliessung des Oregon College of Art and Craft Premiere feierte – und dass es hierzulande erst jetzt einem breiten Publikum zugänglich gemacht wird: jetzt, wo der Hype rund um generative KI den künstlerischen Prozess zum algorithmisch lösbaren Optimierungsfall erklärt.
–––
Verfügbar auf Netflix
Filmfakten: «Showing Up» / Regie: Kelly Reichardt / Mit: Michelle Williams, Hong Chau, Maryann Plunkett, John Magaro, André Benjamin, Amanda Plummer, Judd Hirsch / USA / 108 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmscience/A24
Kelly Reichardt widmet den Ablenkungen des Lebens einen ganzen Film: «Showing Up» ist feinfühlig, empathisch, humorvoll und voller Liebe für den künstlerischen Schaffensprozess.
No Comments