Der grosse finnische Lakoniker Aki Kaurismäki meldet sich mit dem zweiten Teil seiner ‹Hafenstadt-Trilogie› zurück. Auf «Le Havre» (2011) folgt mit der Flüchtlings-Tragikomödie «The Other Side of Hope» ein Karrierehöhepunkt.
Kaurismäki ist eines der grossen Originale des europäischen Kinos. Wie es auch bei seinem amerikanischen Äquivalent Jim Jarmusch der Fall ist, genügt oft eine einzige Einstellung, um einen seiner Filme zu identifizieren: Sie sind bevölkert von betrübt bis grimmig dreinblickenden Menschen mittleren Alters, die ihre Tage kettenrauchend und Bier trinkend in irgendeiner Bar verbringen, in der einzig eine obskure Rockband für so etwas wie Stimmung sorgen kann. Man kennt das aus Werken wie «The Match Factory Girl» (1990), «La vie de bohème» (1992), «Take Care of Your Scarf, Tatiana» (1994), «Drifting Clouds» (1996), «The Man Without a Past» (2002) oder «Lights in the Dusk» (2006).
Wer erwartet hat, dass sich Kaurismäki in «The Other Side of Hope», seinem besten Film seit dem oscarnominierten «Man Without a Past» – und seinem ersten in sechs Jahren –, neu erfindet, kennt den knorrigen Querkopf mit dem Hang zur kommunistischen Utopie schlecht. Nach seinem Frankreich-Ausflug «Le Havre» kehrt er hier ins heimische Helsinki zurück, wo er mit der für ihn so typischen Langsamkeit zwei Handlungsstränge entwickelt, bevor er sie sich schliesslich kreuzen lässt: Einer erzählt von Waldemar (Sakari Kuosmanen), einem Hemdenverkäufer, der seine Frau verlässt und – wie die Helden in «Drifting Clouds» – ein aus der Mode geratenes Restaurant übernimmt. Der andere greift die Migrantenthematik aus «Le Havre» auf, gibt ihr jedoch einen unerwartet expliziten Aktualitätsbezug: Das emotionale Herz des Films bildet Khaled (Sherwan Haji), ein syrischer Flüchtling, der nach einer Odyssee quer durch Europa in Finnland Asyl beantragen will. Es scheint, als habe Kaurismäki seine Regel gebrochen, alle seine Handlungen vor 2007, dem Jahr der europäischen Restaurant-Rauchverbote, anzusiedeln.
Wie die meisten Filme Kaurismäkis ist auch «The Other Side of Hope» letztlich ein Märchen über Einsamkeit, Mitgefühl, Gemeinschaft, sozialistische Solidarität und die verborgene Poesie von Bier, Zigaretten und Musik – durchzogen von leisem, verzögertem Humor und bisweilen theaterhaften Dialogen, die daran erinnern, dass Kaurismäki der vielleicht fähigste Jünger des grossen Rainer Werner Fassbinder ist.
Wie die meisten Filme Kaurismäkis ist auch «The Other Side of Hope» letztlich ein Märchen über Einsamkeit, Mitgefühl, Gemeinschaft, sozialistische Solidarität und die verborgene Poesie von Bier, Zigaretten und Musik.
Doch in diesem Märchen steckt auch viel Sozialrealismus: Obschon absurd gebrochen, gibt einem Khaldes Asylverfahren dennoch eine Ahnung davon, wie massiv Flüchtlinge Zufällen und behördlicher Willkür ausgesetzt sind. Kaurismäkis Helsinki ist sichtlich multikultureller als noch vor elf Jahren in «Lights in the Dusk» – denn für Immigranten, so der Film, ist in der Stadt genauso Platz wie für den Nashville-Countryfan, der mit Nudie Suit und Resonanzgitarre die Menschen in die «Wall Street Bar» locken soll. ‹Wozu an monolithischen Kulturen festhalten?›, denkt sich denn auch Kati Outinen, Kaurismäkis Muse, deren Auftritt darin besteht, Waldemar mitzuteilen, dass sie bald nach Mexico City auswandert, «um Sake zu trinken und Hula zu tanzen». Es ist diese verschmitzte Weltoffenheit, kombiniert mit einem ausgeprägten Sinn fürs Zeitgemässe und den bewährten Konstanten des Kaurismäki-Schaffens, die «The Other Side of Hope» zu einem frühen Jahreshöhepunkt machen.
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Kinostart Deutschschweiz: 30.3.2017 / Streambar auf myfilm.ch
Filmfakten: «The Other Side of Hope» («Toivon tuolla puolen») / Regie: Aki Kaurismäki / Mit: Sherwan Haji, Sakari Kuosmanen, Kati Outinen, Janne Hyytiäinen, Ilkka Koivula, Nuppu Koivu, Simon Hussein Al-Bazoon, Niroz Haji, Kaija Pakarinen / Finnland / 98 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi
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