Ken Loach, der inzwischen 83-jährige Chronist der britischen Arbeiterklasse, hat einen Film über die Gig Economy gemacht. Seine Diagnose ist gnadenlos: Das wütende, beklemmende Familiendrama «Sorry We Missed You» zeigt Grossbritannien als neoliberalen Höllenschlund.
Am 2. September dieses Jahres starb der 48-jährige Billy Foister in einem Krankenhaus in Columbus, Ohio, an einem Herzinfarkt. Die Tragödie kam nicht gänzlich aus dem Nichts: Laut seinem Bruder habe Foister eine gute Woche vor seinem Tod seine Arbeit wegen Kopf- und Brustschmerzen unterbrechen müssen. Die medizinischen Betreuer vor Ort hätten die Beschwerden auf Dehydrierung zurückgeführt, ihm geraten, etwas zu trinken, und ihn zurück auf seinen Posten geschickt – zurück zum Regaleinsortieren in der Amazon-Lagerhalle in Etna, einem Vorort von Columbus. Einige Tage später verstaute Foister ein Paket im falschen Fach. Innert zwei Minuten wurde der Fehler dank Videoüberwachung bemerkt und der Arbeiter persönlich zur Rede gestellt. Am 2. September, als Foisters Herz versagte, lag der 1,90 Meter grosse Mann 20 Minuten lang bewusstlos am Boden der Lagerhalle, ehe seine Vorgesetzten reagierten.
Obwohl Billy Foister kein direktes Opfer der Gig Economy – dem «Sei dein eigener Chef»-Geschäftsmodell von Uber und Postmates – war, ist sein Schicksal ein aufschlussreiches Beispiel für die wirtschaftlichen Mechanismen, die Ken Loach in «Sorry We Missed You» anprangert. Seine Hauptfiguren sind Ricky (Kris Hitchen) und Abby Turner (Debbie Honeywood), die sich und ihre beiden Kinder (Rhys Stone, Katie Proctor) seit der Finanzkrise von 2008 mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten müssen. Er ist gelernter Bauarbeiter und Landschaftsgärtner und heuert neu bei einem Lieferunternehmen als «selbstständiger» Fahrer an; sie ist Krankenpflegerin, die von frühmorgens bis spätabends Hausbesuche macht und selbst nach Feierabend noch auf Abruf steht.
«Was ist nur aus dem Acht-Stunden-Tag geworden?»
Wie Foister befinden sich auch die Turners in einem fundamental ungleichen Arbeitsverhältnis: Sie arbeiten für gesichtslose Einheiten, die es sich aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Lage leisten können, Lohndumping zu betreiben, ausbeuterische Verträge anzubieten und aufmuckendes Personal ohne grösseren Aufwand abzuservieren. Ricky hat sich bei seinem Chef für alles zu verantworten, doch weil er, technisch gesehen, selbstständig arbeitet, steht ihm – ausser dem Recht, Pakete ausliefern zu können – nichts zu: Seinen Kleinlaster muss er selber bezahlen, er haftet für seine Arbeitsinstrumente; Pausen, Krankheitstage und Urlaub stehen nicht auf dem Programm. Eine von Abbys «Klientinnen» – so die offizielle Terminologie – fragt: «Was ist nur aus dem Acht-Stunden-Tag geworden?». Es ist der kapitalistische Albtraum, wie ihn Karl Marx im 19. Jahrhundert beschrieb – und den Margaret Thatcher irgendwie zu einem Synonym für persönliche Freiheit umzumünzen verstand: Nicht die Menschlichkeit der Arbeiterschaft zählt, sondern einzig der Profit, den sie generiert.
«‹Sorry We Missed You› zeigt mit schulmeisterlicher Geradlinigkeit, wie dieses Arbeitsklima soziale Strukturen zersetzt.»
«Sorry We Missed You» zeigt mit schulmeisterlicher Geradlinigkeit, wie dieses Arbeitsklima soziale Strukturen zersetzt: Ricky und Abby sind hoffnungslos überarbeitet und entsprechend nicht in der Lage, ihren Kindern die nötige Aufmerksamkeit zu geben, wodurch das Familiengefüge zunehmend in die Brüche zu gehen droht. Das mag didaktisch sein, funktioniert aber nicht zuletzt dank der grossartigen Darbietungen von Kris Hitchen und Debbie Honeywood.
In ‹Sorry We Missed You› geht der letzte Überlebende des britischen Kitchen Sink Realism mit einem heiligen – und gerechten – Zorn zu Werke, wie man ihn selbst von Loach seit dem Ende der Thatcher-Jahre nicht mehr erlebt hat.»
In Ken Loachs filmischen Barometern für die gesellschaftliche und ökonomische Lage in Grossbritannien, schwingt immer eine gewisse Wut über den Status quo mit – sei es implizit wie im vergleichsweise zarten «Kes» (1969) oder explizit wie im Palme-d’or-Gewinner «I, Daniel Blake» (2016), seinem Plädoyer gegen die Aushöhlung des Wohlfahrtsstaats. Doch in «Sorry We Missed You» geht der letzte Überlebende des britischen Kitchen Sink Realism mit einem heiligen – und gerechten – Zorn zu Werke, wie man ihn selbst von Loach seit dem Ende der Thatcher-Jahre nicht mehr erlebt hat. Das Barometer steht auf Sturm.
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Kinostart Deutschschweiz: 31.10.2019 / Streambar auf cinefile.ch, myfilm.ch und filmingo
Filmfakten: «Sorry We Missed You» / Regie: Ken Loach / Mit: Kris Hitchen, Debbie Honeywood, Rhys Stone, Katie Proctor, Ross Brewster / UK, Frankreich, Belgien / 100 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi
Ken Loach beklagt – einmal mehr – die unmenschlichen Auswüchse des Kapitalismus. Das ist nicht nur hochgradig relevant, sondern auch zutiefst erschütternd.
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