456 Menschen treten zu Kinderspielen an. Der Preis: viel Geld – und ihr Leben. Hwang Dong-hyuks neunteilige Netflix-Miniserie «Squid Game» bewegt sich irgendwo zwischen «The Hunger Games» und «Parasite» – blutig, brutal und mit beissender Kritik an der koreanischen Gesellschaft.
Gi-hun (Lee Jung-jae) ist ein Verlierer, der ganz unten auf der Leiter der koreanischen Gesellschaft angekommen ist. Seine alternde, kranke Mutter kann er nicht unterstützen, und auch fürs Geburtstagsgeschenk seiner Tochter bleibt kein Geld übrig. Die Schuldentreiber rücken ihm auf den Leib, und beim Glücksspiel setzt er wiederholt aufs falsche Pferd. Gi-hun ist in einer sozialen Abwärtsspirale gefangen, aus der es kein Entkommen gibt.
Da macht ihm ein elegant gekleideter Fremder in der U-Bahn ein unwiderstehliches Angebot: Wenn er bei einem simplen Kinderspiel gewinnt, gibt’s Bares – wenn er verliert, eine Ohrfeige. In einer eindringlichen Montage folgt Schlag auf Schlag auf Schlag, dazwischen Gi-huns verbissenes Gesicht: Aufgeben kann und will er nicht. Endlich, ein Siegesschrei! Im Freudentaumel hebt Gi-hun die Hand, um es dem Peiniger heimzuzahlen – doch dieser unterbricht ihn kühl und reicht ihm das versprochene Geld. Schonungslos macht die Serie so von Anfang an klar: Wer in dieser Gesellschaft arm ist, hat kein Anrecht mehr auf Menschlichkeit.
«In Hwang Dong-hyuks neunteiliger Netflix-Miniserie ‹Squid Game› kämpfen 456 Menschen um eine unvorstellbar grosse Summe Geld.»
Von dieser Erkenntnis aus ist es nur ein kleiner Schritt in die komplette Dystopie: In Hwang Dong-hyuks neunteiliger Netflix-Miniserie «Squid Game» kämpfen 456 Menschen um eine unvorstellbar grosse Summe Geld. Darunter: eine Geflüchtete aus Nordkorea, die ihrem Bruder ein besseres Leben ermöglichen will; ein Geschäftsmann, der alles verloren hat; ein ausgebeuteter pakistanischer Immigrant, der seine junge Familie kaum über Wasser halten kann. Auch hier geht es um einfache Kinderspiele – der Preis fürs Verlieren ist aber keine Ohrfeige, sondern der Tod. Wegsehen lässt einen die Serie nie: Wer Mühe mit explodierenden Körperteilen hat, sei hiermit gewarnt.
Dass «Squid Game» aber nicht sofort mit dem Gemetzel beginnt, sondern sich Zeit lässt, die Hintergrundgeschichten der Figuren und die sozialen Dynamiken präzise aufzubauen, ist seine grosse Stärke: Ohne diese Vorarbeit würde man sich im Angesicht der nackten Brutalität schnell einmal fragen, warum so viele Menschen sich des Geldes willen zu solchem Grauen bereit erklären würden. So aber wird die geradezu klaustrophobische Situation beinahe unerträglich: Alle Teilnehmenden lebten so nahe am Abgrund der Armut, dass die minimale Chance auf einen Gewinn zum einzigen Ausweg wird; die Brutalität der Spiele erhöht lediglich die täglich erlebte Brutalität der Armut, Gleichgültigkeit und Demütigung zur tödlichen Konsequenz.
In dieser Hinsicht reiht sich «Squid Game» zum einen sehr offensichtlich in die lange Reihe von Gladiatoren-Dystopien wie «Battle Royale» (2000) und «The Hunger Games» (2012) ein – hegt aber gleichzeitig ähnliche Ambitionen wie jüngst Bong Joon-hos Oscargewinner «Parasite» (2019) oder Lee Chang-dongs leises Meisterwerk «Burning» (2018), die mit Präzision die Missstände der koreanischen Klassengesellschaft sezieren. Es braucht, argumentiert die Serie, kein fiktionales, totalitäres Regime, das die Mitspielenden zur Teilnahme zwingt: Diese Rolle übernimmt die Gesellschaft selbst.
«‹Squid Game› ist bis zum Schluss hin beinahe unerträglich nervenaufreibend und hält sich – mehr oder weniger geschickt – eine Tür für eine zweite Staffel offen, auf die man, sobald der Abspann anläuft, gespannt warten wird.»
Ebenso gelingt es dem Drehbuch meisterlich, in kürzester Zeit einen Kern von Charakteren aufzubauen, mit denen das Publikum mitfiebert, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sie mögen dieser unmenschlichen Situation entfliehen – und dem Wissen, dass es für sie nur den Weg nach vorne gibt. Zum Makrokosmos der Kapitalismuskritik gesellen sich Mikrokosmen der zwischenmenschlichen Beziehungen: unerwartete Freund- und Feindschaften, Konflikte und Betrug, die allesamt emotional mitreissen.
Enttäuschend ist allerdings, dass «Squid Game» gegen Ende seine feineren Zwischentöne aufgibt und stattdessen ganz auf grosse Enthüllungen und eher plumpe didaktische Reden setzt. Die anfängliche Spezifität der Sozialkritik weicht weit gröberen Pinselstrichen, die man in dieser Form schon (zu) oft gesehen hat. Dennoch: «Squid Game» ist bis zum Schluss hin beinahe unerträglich nervenaufreibend und hält sich – mehr oder weniger geschickt – eine Tür für eine zweite Staffel offen, auf die man, sobald der Abspann anläuft, gespannt warten wird.
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Serienfakten: «Squid Game» («오징어 게임», «Ojing-eo Geim») / Creator: Hwang Dong-hyuk / Regie: Hwang Dong-hyuk / Mit: Lee Jung-jae, Park Hae-soo, Jung Ho-yeon, O Yeong-su, Heo Sung-tae, Anupam Tripathi, Kim Joo-ryoung, Wi Ha-joon / Südkorea / 9 Episoden à 32–63 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Netflix
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