Drei Jahre sind seit der letzten Staffel von «Stranger Things» ins Land gegangen: Die Protagonist*innen sind älter, die erzählerischen Ambitionen grösser geworden. Und obwohl die vierte Staffel, deren erster Teil jetzt auf Netflix verfügbar ist, nicht alles richtig macht, ist sie eine erfrischende Rückbesinnung auf die Stärken, welche die Serie ursprünglich zum Phänomen machten.
Viel ist passiert, seit die Zwillingsbrüder Matt und Ross Duffer mit der ersten Staffel von «Stranger Things» einen wegweisenden Netflix-Hit landeten. Die Coming-of-Age-Gruselserie über eine Gruppe von Kindern im kleinstädtischen Amerika der frühen Achtzigerjahre, die mit übernatürlichen Phänomenen und einer unheimlichen Gegenwelt konfrontiert werden, war wohl einer der ersten grossen Vorboten der Nostalgiewelle, welche die US-Popkultur nun schon seit ein paar Jahren umspült.
Wirkte der poppige Remix aus Stephen King und «The Goonies» (1985), den die Duffer Brothers im Sommer 2016 vom Stapel liessen, damals noch durchaus originell, dauerte es nicht lange, bis der Stoff, durchschlagendem Erfolg sei Dank, zur Blaupause für so manche Trittbrett-Produktion wurde. King-Adaptionen, telekinetisch begabte Teenager und filmische Rückbesinnungen auf die Reagan-Jahre – sie alle sind inzwischen beinahe zum Entertainment-Alltag geworden.
Und auch abseits der Bildschirme und Leinwände hat sich einiges getan. Gerade einmal vier Monate nach dem Release von «Stranger Things» wurde Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt – und das mithilfe einer Botschaft, mit der auch die Serie, trotz kritischer Zwischentöne, ein wenig kokettierte: «War es nicht schön in der guten alten Zeit?» Es ist ein Mantra, das in der Politik bis heute nachhallt, und gerade in den USA immer bedrohlichere Züge annimmt.
«Staffel zwei und Staffel drei hatten ihre Höhepunkte – darunter etwa die wunderbaren Schauspielleistungen von Sean Astin und Maya Hawke –, litten aber unter ihren Versuchen, es jedem letzten Internetkommentar recht machen zu wollen.»
In der Folge taten sich die Duffers entsprechend schwer damit, an die Stärken ihrer ersten Staffel anzuknüpfen. Es schien, als wäre mit dem Gefühl, «unschuldige» Achtziger-Nostalgie betreiben zu können, auch die erzählerische und kreative Leichtigkeit verloren gegangen. Staffel zwei (2017) und Staffel drei (2019) hatten ihre Höhepunkte – darunter etwa die wunderbaren Schauspielleistungen von Sean Astin und Maya Hawke –, litten aber unter ihren Versuchen, es jedem letzten Internetkommentar recht machen zu wollen (Stichwort: Barb), und verliefen letztlich beide nach demselben zutiefst unbefriedigenden narrativen Schema: Staffel eins nochmal, aber grösser – mehr Figuren, längere Episoden; und das ewig gleiche interdimensionale Schleimmonster, das es aufzuhalten gilt, wird mit zunehmend eskalierenden Wachstumsschüben kosmetisch aufgemotzt.
Ein erster Blick auf die vierte Staffel lässt weiteres Unheil dieser Art erahnen: Keine einzige der sieben Folgen von «Volume I» – «Volume II» ist am 1. Juli fällig – dauert weniger als eine Stunde; sechs davon haben Spielfilmlänge. Zum etablierten Figurenkern stossen weitere, bislang eher am Rande des Geschehens agierende Persönlichkeiten hinzu. Und die dunkle Bedrohung, die dieses Mal über das einst so malerische Städtchen Hawkins, Indiana hereinbricht, ist – wer hätte es für möglich gehalten? – ein interdimensionales Schleimmonster.
«Doch anders als ihren letzten beiden Vorgängern gelingt dieser neuen Staffel das schier Unmögliche: Sie schafft es, stimmig aus den erstarrten Strukturen des ‹Stranger Things›-Universums auszubrechen.»

STRANGER THINGS. Natalia Dyer als Nancy Wheeler, Joe Keery als Steve Harrington, Gaten Matarazzo als Dustin Henderson, Maya Hawke als Robin Buckley, Sadie Sink als Max Mayfield, und Caleb McLaughlin als Lucas Sinclair / Cr. Tina Rowden/Netflix © 2022
Doch anders als ihren letzten beiden Vorgängern gelingt dieser neuen Staffel das schier Unmögliche: Sie schafft es, stimmig aus den erstarrten Strukturen des «Stranger Things»-Universums auszubrechen und seinen erzählerischen Horizont glaubwürdig zu erweitern. Letzteres ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn Hawkins ist nicht mehr der Nabel der Duffer’schen Welt: Seitdem am Ende der dritten Staffel das Portal in die «Upside Down»-Dimension geschlossen wurde und Eleven/Jane (Millie Bobby Brown) ihre paranormalen Fähigkeiten verlor, ist sie mit Will (Noah Schnapp), dessen Bruder Jonathan (Charlie Heaton) und deren Mutter Joyce (Winona Ryder) nach Kalifornien gezogen, um einen Neuanfang zu wagen. Doch das Leben ohne Superkräfte erweist sich als Herausforderung, gerade wenn es darum geht, sich gegen Highschool-Rüpel zu behaupten.
Auch der in Hawkins verbliebene Rest der Clique bekundet Mühe damit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und das Highschool-Leben in Angriff zu nehmen. Während Janes Freund Mike (Finn Wolfhard) und Nerd-vom-Dienst Dustin (Gaten Matarazzo) im «Hellfire Club», einem «Dungeons & Dragons»-Verein, neue Fantasy-Abenteuer bestreiten, kämpft Lucas (Caleb McLaughlin) um die Gunst seiner Mitspieler im schulischen Basketballteam.
Als es in Hawkins zu einer Reihe von mysteriösen, schockierend brutalen Todesfällen kommt, ist es aber auch schon wieder vorbei mit den Teenager-Trott. Eddie (Joseph Quinn), der Vorsitzende des «Hellfire Club», wird unschuldig zum Hauptverdächtigen ernannt und braucht Hilfe von Dustin und seinen älteren Mitstreiter*innen Steve (Joe Keery) und Robin (Maya Hawke). Zeitgleich wird Lucas‘ Ex-Freundin Max (Sadie Sink) von einer düsteren Macht aus dem Upside Down heimgesucht – einer Macht, die, wie Mikes Schwester Nancy (Natalia Dyer) herausfindet, anscheinend schon im Hawkins der Fünfzigerjahre von sich reden machte (eine von mehreren expliziten, wenn auch ziemlich oberflächlichen Gemeinsamkeiten der Staffel mit Stephen Kings «It»).
Und auch vor Kalifornien machen die jüngsten Entwicklungen nicht Halt: Joyce bekommt ein Paket aus Russland, dessen Inhalt nahelegt, dass ihr geliebter Hopper (David Harbour) doch nicht tot ist; Jane wird mit den zwielichtigen Telekinese-Wissenschaftlern Martin «Papa» Brenner (Matthew Modine) und Sam Owens (Paul Reiser) wiedervereint; und Will, Jonathan und Mike, der über Spring Break auf Besuch ist, geraten mitten in einen Konflikt zwischen zwei Geheimdienstzweigstellen.
Es funktioniert nicht alles in diesen prall gefüllten, aber dennoch seltsam unstet erzählten sieben Episoden. «Volume I» von Staffel vier braucht viel Anlauf, um ihre diversen Handlungsstränge in Position zu bringen. Immer wieder machen sich Redundanzen und allzu ausladende Inszenierungskniffe bemerkbar, die das Ganze ohne ersichtlichen emotionalen, atmosphärischen oder ästhetischen Mehrwert in die Länge ziehen.
Auch irritieren gewisse Entscheidungen in der Konzeption, so etwa Lucas‘ Hin- und Hergerissenheit zwischen den Freund*innen, mit denen er bereits dreimal um Leben und Tod gekämpft hat, und den engstirnigen, selbstverliebten Highschool-Athleten, die ihm erst dann so etwas wie Respekt entgegenbringen, nachdem er sich in einem wichtigen Basketballspiel bewiesen hat – und die im weiteren Verlauf zu einer bizarr unausgegorenen Chiffre für blindwütige Lynchjustiz und christliche Moralpanik werden.
Natürlich steckt darin – gerade angesichts des Achtzigerjahre-Schauplatzes und der Tatsache, dass Lucas Afroamerikaner ist – ein Quäntchen Wahrheit über die sozialen Dynamiken in weiss und männlich dominierten (Teenager-)Milieus; doch die Duffers und ihre Co-Autor*innen schlagen daraus zu wenig substanzielles Kapital, um über die allzu bequeme und allzu rasch überwundene charakterliche Neuausrichtung der Figur hinwegzutäuschen. So wird Lucas nicht nur zu einem Opfer der etwas gar ambitionierten Menge an Konflikten, die in Staffel vier abgehandelt werden sollen, sondern auch – nach Hopper in Staffel drei – zum jüngsten Beispiel für die leidige «Stranger Things»-Tendenz, etablierte Charaktere im Namen dramatischer Zweckmässigkeit radikal umzupolen.

Vecna / Cr. Courtesy of Netflix © 2022
«Das neue Monster aus dem Upside Down, von den Protagonist*innen ‹Vecna› getauft, wird, in bester Stephen-King-Manier, geschickt mit neuen Enthüllungen über die Geschichte von Hawkins verwoben.»
Punkten kann die Staffel – oder zumindest «Volume I» – hingegen dort, wo ihre Vorgänger am meisten enttäuschten: Die Mysteryelemente wirken, auch dank der gefächerten Handlung, nicht mehr wie verzweifelte Versuche, die gruseligen Höhen des originalen «Demogorgons» zu reproduzieren. Das neue Monster aus dem Upside Down, von den Protagonist*innen «Vecna» getauft, wird, in bester Stephen-King-Manier, geschickt mit neuen Enthüllungen über die Geschichte von Hawkins verwoben. Und auch Jane, deren Kräfte dem Erzählfluss in den letzten beiden Staffeln vor allem im Wege standen, bekommt dank eines erweiterten Ausflugs in ihre verdrängten Erinnerungen eine ganz neue Daseinsberechtigung.
Die Konsequenz ist eine willkommene Rückbesinnung auf das, was «Stranger Things» ursprünglich so reizvoll machte: Coming-of-Age-Buddy-Komödie trifft auf überwiegend zahmen Lagerfeuer-Grusel mit sporadischen, aseptisch proper inszenierten Ausflügen ins Ekel-Horrorfach, eingebettet in eine unterhaltsam vorgetragene, anregend geheimnisvolle Geschichte, die sich gekonnt von Cliffhanger zu Cliffhanger hangelt – und deren Bösewicht dieses Mal sogar erkennbare Charakterzüge hat.
Was die Duffers mit «Stranger Things» geschaffen haben, war noch nie ganz grosses Fernsehen, geschweige denn eine Genre-Offenbarung. Es war von Anfang an eine offenherzige, unverhohlen derivative, bisweilen etwas allzu enthusiastische Liebeserklärung an die Filme, Bilder und kulturellen Gemeinplätze der Achtzigerjahre, deren grösste Trümpfe ihre sympathischen Figuren und die fantasievolle Wiederverwendung bekannter Horror-Versatzstücke waren. Und genau diese Formel setzt der erste Teil der vierten Staffel so gut um, wie es der Serie seit gut sechs Jahren nicht mehr gelungen ist. Man darf gespannt sein, ob «Volume II» diesen Eindruck bestätigen wird.
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Jetzt auf Netflix Schweiz
Serienfakten: «Stranger Things» (4. Staffel, Volume I) / Creators: Matt Duffer, Russ Duffer / Mit: Millie Bobby Brown, Winona Ryder, David Harbour, Finn Wolfhard, Gaten Matarazzo, Caleb McLaughlin, Noah Schnapp, Sadie Sink, Joe Keery, Maya Hawke, Natalia Dyer, Brett Gelman, Matthew Modine, Paul Reiser, Jamie Campbell Bower, Joseph Quinn, Eduardo Franco, Tom Wlaschiha / USA / 7 Episoden à 63–98 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Netflix © 2022
«Stranger Things» überwindet nicht alle seine Schwächen – doch Staffel vier besticht mit einer abwechslungsreichen Handlung und dem besten Bösewicht seit dem Demogorgon.
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