Wie kann man als Frau gegen eine männlich dominierte Gesellschaft ankämpfen, die einem permanent einengende Rollenbilder und Verhaltensregeln aufzuhalsen versucht? Die Protagonistin von Carlo Mirabella-Davis‘ klinischem Body-Horrordrama «Swallow» findet eine radikale Lösung.
Es ist erstaunlich, wie essbar so eine Glasmurmel aussehen kann, wenn sie richtig inszeniert wird: Klein, rund und perfekt ausgeleuchtet liegt sie da – wie eines dieser sphärisierten Gerichte, die seit einigen Jahren der Renner in der Haute Cuisine sind. Wer also kann es Hunter (Haley Bennett) da verdenken, dass sie sich die hübsche Kugel in den Mund steckt, sie bedächtig mit der Zunge befühlt und sie schliesslich ohne sichtliche Mühe hinunterschluckt?
«Die junge Frau hat das sogenannte Pica-Syndrom: Sie verspürt, womöglich als Folge ihrer Schwangerschaft, einen unstillbaren Heisshunger auf nicht essbare Dinge.»
Die junge Frau hat das sogenannte Pica-Syndrom: Sie verspürt, womöglich als Folge ihrer Schwangerschaft, einen unstillbaren Heisshunger auf nicht essbare Dinge. So folgen auf die Murmel denn auch weitaus weniger unproblematische Mahlzeiten: metallene Spielzeugfigürchen, Sicherheitsnadeln, Batterien, eine Reisszwecke. Es dauert nicht lange, bis ihr im Krankenhaus der Magen ausgepumpt werden muss.
Das krankhafte Verlangen stösst in ihrem Umfeld aber nicht etwa auf Empathie oder gar Unterstützung – im Gegenteil. Sowohl ihr Ehemann Richie (Austin Stowell) als auch dessen Eltern (Elizabeth Marvel, David Rasche) sind geradezu empört: Was erlaubt sich die aus bescheidenen Verhältnissen stammende Hunter überhaupt? Ist das der Dank dafür, dass sie vom schwerreichen Conrad-Clan aus ihrem nichtsnutzigen Künstlerinnendasein gerettet wurde und nun in Richies lichtdurchfluteter Luxusvilla mit Blick auf den Hudson River ein sorgloses Hausfrauenleben verbringen darf? Nicht auszudenken, welche Konsequenzen ihr Verhalten für den ungeborenen Erben des grosselterlichen Vermögens haben könnte.

Haley Bennett als Hunter / Photo courtesy of IFC Films
Regisseur und Drehbuchautor Carlo Mirabella-Davis verarbeitet in «Swallow» eine provokante Metapher: Indem sie ihren Körper mit scharfen Objekten und ätzenden Substanzen füllt, kontert Hunter all die toxischen Elemente, die sie als Frau in der patriarchalen Gesellschaft «schlucken» muss – allen voran die Erwartung, dass sie sich aus lauter Dankbarkeit für die auf sie übertragene finanzielle Sicherheit mit der Existenz als makellose Gattin und identitätslose Gebärmaschine zufriedenzugeben hat.
Es enttäuscht ein wenig, ist zugleich aber auch verständlich, dass Mirabella-Davis in seiner Behandlung dieses Konflikts dem Body-Horror-Aspekt der Affiche nicht durchgehend treu bleibt. Enttäuschend, weil er in jenen Szenen, die in ihrer expressiven Unappetitlichkeit an David Cronenberg («Videodrome», «The Fly») erinnern, das politisch subversive Potenzial des allzu oft verpönten Subgenres eindrücklich unter Beweis stellt. Verständlich, weil «Swallow» eben gerade von Hunters Kampf darum handelt, nicht auf ihren Körper reduziert zu werden.
Man kann darüber streiten, ob die erzählerische Evolution zum Psychodrama – mithilfe einer etwas plakativen Verarbeitung eines Kindheitstraumas der Protagonistin – die stimmigste Ergänzung zum messerscharfen Pica-Horror ist. Dass dieser Gangwechsel den emotionalen Bogen dennoch nicht allzu stark beeinträchtigt, ist neben einem eindringlichen Kurzauftritt von Denis O’Hare («Late Night», «The Goldfinch») vor allem das Verdienst der herausragenden Haley Bennett, die mit ihrer authentischen Darstellung von Hunters angespannter Dauerwachsamkeit das doppelte Vogelmotiv des Films perfekt verkörpert. («Pica» ist Lateinisch für «Elster», «Swallow» heisst neben «schlucken» auch «Schwalbe».)

Haley Bennett als Hunter / Photo courtesy of IFC Films
«Entsprechend wird Mirabella-Davis’ Langspielfilmdebüt vorab dank Bennetts Performance, dem stilsicher inszenierten Ekel und dem feministischen Subtext, der sich daraus ableitet, in Erinnerung bleiben.»
Entsprechend wird Mirabella-Davis’ Langspielfilmdebüt vorab dank Bennetts Performance, dem stilsicher inszenierten Ekel und dem feministischen Subtext, der sich daraus ableitet, in Erinnerung bleiben. Obwohl «Swallow» kein explosives Statement-Werk im Stile der Genre-Erstlinge von Jordan Peele («Get Out») und Julia Ducournau («Grave») ist, liefert er mehr als genug Belege, dass man es hier mit einem Regisseur zu tun hat, den es im Auge zu behalten lohnt.
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Filmfakten: «Swallow» / Regie: Carlo Mirabella-Davis / Mit: Haley Bennett, Austin Stowell, Elizabeth Marvel, David Rasche, Denis O’Hare, Laith Nakli / USA, Frankreich / 94 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Courtesy of IFC Films
«Swallow» gelingt der Mix aus Body-Horror und Psychodrama nicht ganz, doch der Film besticht aber mit thematischer Substanz, atmosphärischer Inszenierung und einer starken Haley Bennett.
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