In einer von einer tödlichen Pandemie gebeutelten Welt versuchen die Überlebenden, so etwas wie eine Gesellschaft wiederaufzubauen, manche mit Gewalt, andere durch Gemeinschaft. Die Ausgangslage ist nicht neu, doch die Netflix-Serie «Sweet Tooth» bietet in einer Zeit, in der die Streamingdienste mit düsteren postapokalyptischen Geschichten überschwemmt werden, etwas sehr Willkommenes: Hoffnung.
Im Zentrum der Apokalypsen-Fabel steht der kleine Gus (Christian Convery). Er ist ein sogenannter Hybrid, ein Mensch-Tier-Mischling mit dem Geweih und den Ohren eines Rehs. Zu Beginn der Geschichte lebt er isoliert in einer Hütte im Yellowstone-Nationalpark zusammen mit seinem Vater (Will Forte), der ihm alles beibringt, was er zum Überleben wissen muss. Von der mysteriösen «Krankheit», die den Rest der Welt ins Chaos stürzt, weiss Gus nicht viel. Sein Vater scheint mehr zu wissen, trichtert ihm aber deutlich ein, dass er den Zaun, der den Wald umgibt, unter keinen Umständen passieren darf, da alles jenseits dieser Grenze von Feuer verschlungen wird. Diese Regel wird natürlich irgendwann gebrochen und Gus verlässt das Grundstück und macht sich mit dem Einzelgänger Tommy Jepperd (Nonso Anozie), der hauptsächlich als «Big Man» bekannt ist, auf die Suche nach der Mutter, die er nie wirklich gekannt hat.
In weiteren Handlungssträngen erlebt der sympathische Dr. Singh (Adeel Akhtar) sowohl den Ausbruch der Pandemie als auch die Geburt der ersten Hybrid-Babys hautnah mit, und versucht verzweifelt, das Virus einzudämmen. Da seine Frau ebenfalls infiziert wurde, konzentriert er sich irgendwann darauf, ein Heilmittel zu finden – doch dafür muss auch er eine Grenze überschreiten, die er nicht überschreiten will. Deutlich besser gelingt es der ehemaligen Therapeutin Aimee (Dania Ramirez), sich anzupassen. Sie hatte schon vor dem Kollaps genug von den Menschen und schafft nun in einem verlassenen Zoo ein sicheres Zuhause für Hybridkinder, um sie vor einer Gesellschaft zu schützen, die sie hasst und fürchtet. Und dann wäre da noch der gnadenlose General Abbot (Neil Sandilands), Anführer der «Last Men», der unerbittlich Jagd auf die Hybriden macht, da er glaubt, zwischen ihnen und dem Virus bestehe eine direkte Verbindung.
«Dafür ist jede Sekunde, in der Christian Convery als Gus zu sehen ist, eine wahre Freude. Sein Optimismus, seine Euphorie und seine Entdeckungslust sind wahnsinnig ansteckend, und seine kindliche Naivität, selbst in Gefahrensituationen, ist überraschend herzerwärmend.»
All diese Geschichten werden irgendwann zusammengeführt, doch das Schicksal vom niedlichen Gus, der aufgrund seiner Vorliebe für Süssigkeiten bald den Spitznamen «Sweet Tooth» erhält, und sein Roadtrip mit dem mürrischen Jeb nehmen die meiste Zeit in Anspruch. Und das ist auch gut so, denn ihre Reise, auf der sie viele Gefahren meistern müssen, aber auch Verbündete treffen, ist der mit Abstand abwechslungsreichste Teil der Erzählung. Die Nebenhandlungen sind zwar solide erzählt, wirken aber oft eher wie ein Mittel zum Zweck, um das Staffelfinale vorzubereiten. Dafür ist jede Sekunde, in der Christian Convery als Gus zu sehen ist, eine wahre Freude. Sein Optimismus, seine Euphorie und seine Entdeckungslust sind wahnsinnig ansteckend, und seine kindliche Naivität, selbst in Gefahrensituationen, ist überraschend herzerwärmend. Auch die diversen Hybrid-Kinder in der Zoo-Kita haben die Zuschauer*innen in Nullkomanichts um den Finger gewickelt.
Umso härter treffen dann auch die unweigerlichen Schicksalsschläge, die am Ende der ersten Staffel auf die Hauptfiguren warten und für einen fiesen Cliffhanger sorgen. Doch bis es so weit ist, darf man sich an der wunderbaren und farbenfrohen Welt erfreuen, die Jim Mickle («Hap and Leonard») und Beth Schwartz («Arrow») erschaffen haben. Erfrischenderweise wird nicht schon wieder die Art von postapokalyptischer Welt präsentiert, die mit weggeworfenen Leichen und schrecklichen Monstern übersät ist. Es ist unsere Welt, nur ein bisschen ruhiger und grüner. Und mit ein paar umherziehenden Gangs. Die DC-Comicvorlage von Jeff Lemire schlägt zwar in eine brutalere und düsterere Kerbe, etwa im Stile von Cormac McCarthys Endzeitroman «The Road» (2006); doch die Netflix-Verfilmung entfernt sich ganz bewusst davon und schlägt deutlich hoffnungsvollere Töne an, weshalb sie – auch dank einiger inhaltlicher Änderungen – auf eigenen Beinen stehen kann. Unterstrichen wird der märchenhafte Erzählcharakter von Schauspielveteran James Brolin, Josh Brolins 80-jährigem Vater, der als unsichtbarer Erzähler die Handlung umrahmt.
«Dennoch ist ‹Sweet Tooth› insgesamt ein wunderbares und selbstbewusstes Fabel-Abenteuer, das es wert wäre, in einer weiteren Staffel zu Ende erzählt zu werden.»
Dem sorgfältigen und bedächtigen Aufbau in der ersten Staffelhälfte folgt dann leider eine etwas zerfaserte zweite, in der es den beiden Showrunners nicht ganz gelingt, die Fäden im richtigen Tempo zusammenzuführen, und in der sie sich ein wenig in generischeren Motiven verlieren. Dennoch ist «Sweet Tooth» insgesamt ein wunderbares und selbstbewusstes Fabel-Abenteuer, das es wert wäre, in einer weiteren Staffel zu Ende erzählt zu werden.
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Jetzt auf Netflix Schweiz
Serienfakten: «Sweet Tooth» (1. Staffel) / Creators: Jim Mickle und Beth Schwartz / Mit: Nonso Anozie, Christian Convery, Adeel Akhtar, Stefania LaVie Owen, Dania Ramirez, Aliza Vellani, James Brolin, Will Forte, Neil Sandilands / USA / 8 Episoden à 37–53 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © 2021 NETFLIX
«Sweet Tooth» lebt von seiner aufgeweckten Hauptfigur und der märchenhaft inszenierten Post-Apokalypse. Einige wohlbekannte Weltuntergangs-Standards trüben die Freude an der Serie nicht.
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