Wie kann es passieren, dass ein Kind in einer vermeintlich gut funktionierenden Gesellschaft solch extreme Verhaltensweisen aufweist, dass es in kein bestehendes Raster hineinpasst? Mit der realitätsnahen Charakterstudie «Systemsprenger» thematisiert die deutsche Regisseurin Nora Fingscheidt ein soziales Tabuthema mit immenser innerer Wucht, die von Jungschauspielerin Helena Zengel bravourös zutage gefördert wird.
«Wie geht es Ihnen heute?», fragt ein kleines Mädchen einen am Spielplatz spazierenden Senioren. Als dieser nicht reagiert, wohl aus Schwerhörigkeit, platzt es aus dem vermeintlich freundlichen Kind heraus: «Warum antwortest du nicht, du Arschloch?», schreit es dem perplexen Rentner hinterher. Eine übertriebene Reaktion, die gleich zu Beginn von «Systemsprenger» in die komplexen emotionalen Vorgänge des Mädchen einführen.
Die Rede ist von der neunjährigen Benni (Helena Zengel). Das kecke Mädchen sieht aus wie ein Engel: strohblondes Haar, kristallblaue Augen. Doch der Schein trügt – in ihr schlummert eine aggressive Energie, die immer wieder wie aus dem Nichts aus ihr herausschiesst, vor allem, wenn ihr ins Gesicht gefasst wird, was sie in den unaushaltbaren Gefühlszustand eines frühkindlichen Traumas zurückschleudert. Nichts und niemand scheint sicher vor dem pinkliebenden Pulverfass in Form eines unschuldig wirkenden jungen Mädchens. Benni wird von Wohngruppe zu Wohngruppe geschickt, fliegt aber immer wieder aus diesen raus. Ihre Mutter (Lisa Hagmeister) verspricht der Tochter immer wieder, dass das Mädchen bald wieder nach Hause darf, was allerdings nie geschieht, da diese mit ihrem eigenen Kind schlichtweg überfordert ist. Die einzigen Bezugspersonen, zu denen Benni Vertrauen entwickelt, sind die Sozialbetreuerin Frau Bafané (Gabriela Maria Schmeide) sowie der Schulbegleiter Micha (Albrecht Schuch), der früher selbst als schwererziehbar galt. Dieser fährt mit ihr für eine direkte Eins-zu-Eins-Betreuung aufs Land – doch als Benni in ihm einen Ersatzvater sieht, droht er, die nötige Distanz zu verlieren.
Ein Teufelskreis aus Nähe und Distanz, oder: «Mama!»
Das soziale Drama hat an der Berlinale bereits den Silbernen Bären abgeräumt, ist die diesjährige Oscareingabe von Deutschland und läuft heuer am Zurich Film Festival im Wettbewerb «Fokus Schweiz, Deutschland, Österreich», bevor es in unseren Kinos auf der Grossleinwand zu sehen ist. Die Geschichte um Benni fesselt, wühlt auf und lässt den Zuschauer die hiesigen Institutionen für Sozialfälle anzweifeln.
Die Geschichte um Benni fesselt, wühlt auf und lässt den Zuschauer die hiesigen Institutionen für Sozialfälle anzweifeln.
Systemsprenger werden im deutschsprachigen Raum diejenigen Kinder, Jugendlichen, aber auch Erwachsenen genannt, welche die sozialen Hilfsgemeinschaften überfordern – deren System wortwörtlich sprengen. Doch der Begriff ist paradox, denn kein Kind macht das System kaputt. Vielmehr geschieht dies anders herum: Als schwarze Peter werden verhaltensauffällige Kinder von diesem ausgesondert – dabei liegt der Fehler gar nicht bei ihnen, sondern eben im rigiden und konservativen System, das keinen Platz für die Zuwendung bietet, die diese Menschen bräuchten. So findet sich Benni in einem Teufelskreis wieder: Ihre Aggression ist nichts anderes als ein Hilferuf nach Beständigkeit, Nähe und Zuneigung, allem voran: ein Hilfeschrei nach ihrer Mutter, deren Unverfügbarkeit die Wurzel des Konflikts ist. Diese ist nicht fähig, ihrer Tochter vollständig zu entsagen, sondern verstrickt sich in ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Institutionen und ihrem Kind. Durch diese unvorhersehbare Teilverfügbarkeit kann sich Benni nie vollständig von ihrer Mutter trennen, die sie vergöttert, und so auch nie deren Inkompetenz akzeptieren, um endlich loszulassen und weitergehen zu können.
Eine Fiktion, direkt der Realität entnommen
Für ihren ersten Langspielfilm hat die Regisseurin Nora Fingscheidt fünf Jahre lang recherchiert, besuchte Wohngruppen für schwererziehbare Kinder, deren Familien sowie ehemalige Systemsprenger, die auch im Erwachsenenalter nach einer turbulenten Kindheit immer noch von dieser gezeichnet sind. Aus ihren Erfahrungen hat Fingscheidt die vielschichtige Protagonistin gezeichnet, die eine der interessantesten Figuren des aktuellen deutschen Filmschaffens ist. Nie hat man sich vor einem Kind so sehr gefürchtet, während man mit ihm mitleidet und es am liebsten in die Arme schliessen würde. Dabei war es der Regisseurin wichtig, ihrer Protagonistin keinen Migrationshintergrund, keine Krankheit und keine Behinderung zuzuschreiben und ihr Alter auch nicht in der Pubertät anzusetzen, sodass die Ursache ihres Verhaltens nicht in altbekannte Raster verfrachtet werden kann. So steht ein scheinbar uneingeschränktes, gesundes Kind im Zentrum des Geschehens, was die Thematik umso mehr verschärft und einen klaren Blick auf die Psyche der Protagonistin ermöglicht.
Für ihren ersten Langspielfilm hat die Regisseurin Nora Fingscheidt fünf Jahre lang recherchiert, besuchte Wohngruppen für schwererziehbare Kinder, deren Familien sowie ehemalige Systemsprenger, die auch im Erwachsenenalter nach einer turbulenten Kindheit immer noch von dieser gezeichnet sind. Aus ihren Erfahrungen hat Fingscheidt die vielschichtige Protagonistin gezeichnet, die eine der interessantesten Figuren des aktuellen deutschen Filmschaffens ist
Ein gesprengtes System, eine gesprengte Dramaturgie
Benni sprengt nicht nur das System, das ihr die Sozialarbeiter mit viel Geduld und Aufopferungsarbeit bieten wollen. Auch jeglicher klassischer Dramaturgiebogen wird von den unberechenbaren Anfällen der Neunjährigen attackiert und wie das nur scheinbar unzertrümmerbare Sicherheitsglas zersprengt. So gibt es während der knapp 110 Minuten Laufzeit des Spielfilmes so viele Hochs und Tiefs, wodurch jeglicher Aristoteles-Anhänger verzweifelt die Hände verwerfen dürfte, der Film aber auch an erschlagender Realitätsnähe gewinnt. Aufgrund der Handkamera, der entsättigten, nüchternen Farbgebung und der Nähe zu den Schauspielern fragt sich das Publikum bald, ob «Systemsprenger» nicht doch eine Dokumentation ist, oder sich die Inszenierung nicht mit der Dokumentargattung zumindest vermischt. Einzig die atmosphärischen Experimentalsequenzen, die den emotionalen Zustand von Benni symbolisieren, schieben den Dokumentationsfaktor von «Systemsprenger» für einige Sekunden beiseite und verdichten das Drama zu einer Charakterstudie mit Introspektive, welcher die Zuschauer beinahe ohnmächtig beiwohnt.
Ein explosives Jungschauspieltalent
Grund für die polarisierenden Auswirkungen, die «Systemsprenger» auf das Publikum auswirkt, ist neben der Dringlichkeit der realitätsnahen Thematik das Schauspiel, allen voran dasjenige der Jungschauspielerin Helena Zengel.
Die beim Dreh erst neunjährige Schauspielerin kann nicht nur mit ihrer Interpretation von Bennis Ausrastern das Publikum zum Erstarren bringen und sich dabei die Seele aus dem Leib schreien, bis einem die Ohren wackeln, sondern verschafft der Figur eine zusätzliche gegenteilige, sensible und nach Liebe lechzender Seite. Benni nervt; gleichzeitig will man sie fest in die Arme schliessen und lacht auch ab ihrer gewitzten Schlagfertigkeit. Welche Kraft das unvorhersehbare Verhalten des Mädchens hat, wird dem Zuschauer immer bewusster. Das Blut gefriert dem Zuschauer, als sich Benni kurzerhand bei der Familie von Micha einnistet und sich liebevoll um deren Baby kümmert, bevor sie nach einem weitereren Trigger die Sicherheit des Kleinkindes rapide gefährdet.
Neben Zengels Talent ist auch die präzise Regieführung Fingscheidts dafür verantwortlich, dass man bei «Systemsprenger» durchgehend das Gefühl hat, selbst inmitten des Geschehens zu sein. Helena Zengels ausdrucksstarkes Spiel wird uns in Zukunft hoffentlich noch oft vom Kinosessel hauen. Den Sprung nach Hollywood hat sie übrigens bereits geschafft: Demnächst steht sie mit Tom Hanks in «News of the World» des britischen Regisseurs Paul Greengrass vor der Kamera – man darf gespannt sein.
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Kinostart Deutschschweiz: 3.10.2019
Filmfakten: «Systemsprenger» / Regie: Nora Fingscheidt / Mit: Helena Zengel, Albrecht Schuch, Lisa Hagmeister, Gabriela Maria Schmeide, Victoria Trauttmansdorff, Melanie Straub / Deutschland / 106 Minuten
Bild und Trailerquelle: cineworx
«Systemsprenger» greift wichtige Sozialthemen auf und berührt durch das wuchtige Schauspiel und die realitätsnahe Inszenierung.
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