16 Jahre nach «Little Children» legt Regisseur und Drehbuchautor Todd Field endlich seinen dritten Film vor – und er enttäuscht nicht: Das Psychodrama «Tár» um eine zwielichtige Dirigentin ist eine unbequeme Charakterstudie, die für viel Diskussionsstoff sorgt.
Lydia Tár (Cate Blanchett) ist ein Phänomen: Sie ist promovierte Musik-Ethnologin und die Protegée des legendären Leonard Bernstein. Als Dirigentin und Komponistin erlangte sie Weltruhm, gewann Emmys, Grammys, Oscars, Tonys. Die von ihr dirigierten Aufnahmen von Gustav Mahlers Sinfonien gelten als Standardwerke; und schon bald wird sie mit «ihrem» Orchester, der Berliner Philharmonie, Mahlers Fünfte einspielen. Zu Beginn des Films, der ihren Namen trägt, hält der sich selbst spielende «New Yorker»-Autor Adam Gopnik eine minutenlange Laudatio, bevor er sie im darauffolgenden Interview regelrecht umgarnt.
Doch wie sicher – und vor allem wie gerechtfertigt – ist dieser blendende Ruf? Noch in den Anfangsminuten werden Gopniks überschwängliche Lobhudeleien von Aufnahmen einer iMessage-Konversation ergänzt, in der Társ Assistentin Francesca (Noémie Merlant) über ihre herrische Vorgesetzte lästert. Ein Geschäftspartner (Mark Strong) will ihr ihre Partituren abluchsen; ihre Ehefrau Sharon (Nina Hoss), ihrerseits erste Geige und Konzertmeisterin unter Tár, verfolgt mit erhobenen Augenbrauen, wie sie die junge Cellistin Olga (Sophie Kauer) hofiert.
Tatsächlich scheint «Tár», der erste Film vom «In the Bedroom»– und «Little Children»-Regisseur und -Drehbuchautor Todd Field seit 2006, ganz im Zeichen von #MeToo und der sogenannten «Cancel Culture» zu stehen – und der Frage, wie mit Kunst umzugehen ist, die von Menschen gemacht wurde, die ihre Macht missbraucht und sich sexuelle oder anderweitige Übergriffe haben zuschulden kommen lassen.
«Tatsächlich scheint ‹Tár› ganz im Zeichen von #MeToo und der sogenannten ‹Cancel Culture› zu stehen – und der Frage, wie mit Kunst umzugehen ist, die von Menschen gemacht wurde, die ihre Macht missbraucht und sich sexuelle oder anderweitige Übergriffe haben zuschulden kommen lassen.»
In einer frühen Schlüsselszene debattiert Tár während einer Masterclass im New Yorker Edel-Konservatorium Juilliard mit einer Schwarzen Pangender-Person (Zethphan Smith-Gneist), die sich nichts aus der Musik von Johann Sebastian Bach macht. Der angegebene Grund: Ein alter weisser Cis-Mann wie Bach, der mehr als ein Dutzend Kinder zeugte, sei für eine Person wie Max, so der Name von Smith-Gneists Figur, weder interessant noch relevant. Társ Replik, die himmlische Musik, die Bachs «problematische» Biografie um Jahrhunderte überlebt hat, habe zumindest die Ehre der aufrichtigen Auseinandersetzung verdient, mag inhaltlich vertretbar sein, ist in ihrer Form aber bewusst bedenklich: Ihr Gebaren überschreitet physische Grenzen, ihr zunehmend herablassender Tonfall geht weit über eine respektvolle Diskussion hinaus.
Innert weniger Minuten skizziert Field hier den spannungsgeladenen Diskurs, in dem sich sein Film bewegt: Sinn und Unsinn des weiss und männlich dominierten westlichen Kanons, das Verhältnis zwischen Kunst und Aktivismus, das Ideologie- und Machtgefälle zwischen der etablierten Elite und ihren Zöglingen. Die Szene mag es sich in mancherlei Hinsicht etwas gar einfach machen – Max‘ Argumente bleiben plakativ oberflächlich, ein Bach ist einfacher zu verteidigen als etwa ein Richard Wagner –, doch wie Field in der Folge zeigt, ist es genau diese Fokussierung auf die «ästhetischen» Unterschiede zwischen abgeklärtem Expert*innentum und dem scheinbar naiven Sturm und Drang von Menschen wie Max, die den Kern der Materie strategisch vernebelt.
Denn Tár ist alles andere als eine neutrale Instanz in dieser kulturellen und sozialen Problematik: Wie sich im Laufe des Films herausstellt, zirkulieren Gerüchte, dass sie Musikerinnen für sexuelle Gefälligkeiten bevorzugt behandelt. Immer wieder ist aus ihren Gesprächen mit Francesca herauszuhören, dass eine ehemalige Assistentin schwere Vorwürfe gegen sie erhebt. Nacht für Nacht plagen sie ominöse Albträume, auf ihren Jogging-Routen durch die Strassen und Parks von Berlin hört sie die markdurchdringenden Schreie einer Frau. Wenn Tár also den Status von Bach verteidigt, zeugt das nicht nur von ihrer Liebe zur Musikgeschichte, sondern nicht zuletzt auch von einer gewissen Sorge um ihr eigenes Erbe.
Dass sich diese Geschichte über eine ihre Macht ausnutzende Künstlerin, die sich hinter ihrem Werk zu verstecken versucht, ausgerechnet in der klassischen Musikszene abspielt, dürfte angesichts der noch nicht allzu weit zurückliegenden Causa James Levine kein Zufall sein: Levine, der 2021 77-jährig verstarb, war jahrzehntelang als Dirigent und künstlerischer Leiter der New Yorker Metropolitan Opera tätig gewesen, bevor er 2018, zwei Jahre nach seiner Pensionierung, von allen (Ehren-)Ämtern enthoben wurde, als herauskam, dass er während seiner Karriere mehrere professionell von ihm abhängige Männer sexuell belästigt und missbraucht hatte.
Cate Blanchetts weiblichem Levine-Avatar die Titel- und Hauptrolle von «Tár» anzuvertrauen, ist ein Spiel mit dem Feuer, das Field zugegebenermassen nicht vollumfänglich meistert. Zu plump muten gewisse Stationen von Társ beruflichem und persönlichem Niedergang an, den das Publikum nur aus ihrer Perspektive miterlebt: Vom stümperhaft frisierten Video, anhand dessen sie im Internet als Rassistin und Antisemitin gebrandmarkt wird, bis hin zu den übereifrigen, fast schon künstlich empört wirkenden Demonstrant*innen, die ihre öffentlichen Auftritte begleiten – der Film gesteht nur Tár eine einigermassen differenzierte Weltanschauung zu.
«Indem Field sein Publikum mehr als zweieinhalb Stunden in die Position einer zutiefst ‹problematischen›, aber nichtsdestoweniger dreidimensional gezeichneten – und fiktiven – Figur versetzt, zwingt er es quasi dazu, aktiv moralisch zu denken und seine eigenen Vorstellungen gegebenenfalls zu hinterfragen.»
Doch womöglich ist das auch der Clou des Ganzen: Indem Field sein Publikum mehr als zweieinhalb Stunden in die Position einer zutiefst «problematischen», aber nichtsdestoweniger dreidimensional gezeichneten – und fiktiven – Figur versetzt, zwingt er es quasi dazu, aktiv moralisch zu denken und seine eigenen Vorstellungen gegebenenfalls zu hinterfragen.
Wäre der Film aus der Sicht von Társ Opfern erzählt, würde es wohl nicht allzu schwerfallen, sie von vornherein als verachtenswert abzutun und sich in der Folge selber für die eigene empathische Aufgeschlossenheit zu gratulieren. Doch weil sich «Tár» zur Ambiguität entschliesst und das wahre Ausmass der Intriganz seiner Protagonistin nur in kleinen Dosen preisgibt, ist es in vielen Szenen dem Publikum überlassen, Társ Verhalten zu werten: Wenn sie etwa der mobbenden Klassenkameradin ihrer Adoptivtochter Petra (Mila Bogojevic) damit droht, sie «fertigzumachen», dann ist das auf eine Weise inszeniert, die es jedem und jeder Zuschauer*in offenlässt, über den bizarren Moment zu lachen oder ihn als beunruhigenden Einblick in eine Person aufzufassen, die sich ihrer erheblichen Privilegien vollauf bewusst ist.
Dass dieser Drahtseilakt überwiegend funktioniert, ist auch der hervorragend aufspielenden Cate Blanchett zuzuschreiben, die Tár weder verteufelnd karikiert noch mitleidheischend sentimental darstellt, sondern – ganz den piekfein-sterilen Kulissen, in denen sich die Maestro bewegt, entsprechend – sogar in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen auf undurchschaubare Höflichkeit und einstudiert eisige Professionalität setzt.
«Dass dieser Drahtseilakt überwiegend funktioniert, ist auch der hervorragend aufspielenden Cate Blanchett zuzuschreiben, die Tár weder verteufelnd karikiert noch mitleidheischend sentimental darstellt.»
Überhaupt ist «Tár» als Ganzes dermassen elegant erzählt und inszeniert – hier strotzen sogar die Traumsequenzen vor Tiefenschärfe, hochgradig ästhetischen Kompositionen und teuer aussehendem Design –, dass die fast schon dreckigen letzten Pointen des Films einschlagen wie ein Twist. Und nicht nur das: Field hebelt in der Schlussviertelstunde gleich mehrere Konventionen aus, die man sich von dieser Art Psychodrama gewohnt ist. Damit geht er einerseits, erzählerischer Perspektive zum Trotz, gegen die Interpretation vor, Társ Kunst rechtfertige ihr Verhalten; andererseits wird damit der Tonfall der vorangegangenen 150 Minuten urplötzlich in Zweifel gezogen. Nicht wenige, die nach der Visionierung von «Tár» aus dem Kino laufen, dürften sich fragen, ob der Film beim zweiten Mal wohl zur schwarzen Komödie mutiert.
Es ist diese subtile Mehrdeutigkeit, die Fields Rückkehr auf den Regiestuhl auszeichnet. Ein sonderlich aufschlussreicher Beitrag zur anhaltenden #MeToo-Thematik mag «Tár» nicht sein; doch es ist fraglich, ob das überhaupt die Absicht war. Vielmehr scheint Field hier anhand einer scharf beobachteten, seriös erzählten, aber in entscheidenden Momenten ironisch gebrochenen Künstlerinnenvita dem Phänomen des Machtmissbrauchs an sich auf den Zahn zu fühlen. Harmonisches Konsens-Kino ist das nicht – und das ist auch gut so.
Über «Tár» wird auch in Folge 55 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 23.2.2023
Filmfakten: «Tár» / Regie: Todd Field / Mit: Cate Blanchett, Noémie Merlant, Nina Hoss, Sophie Kauer, Julian Glover, Allan Corduner, Mark Strong / USA, Deutschland / 158 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © 2022 Focus Features, LLC. / Universal Schweiz
Todd Field stürzt sich in «Tár» in eine brisante Thematik – und verarbeitet sie zu einem komplexen, grossartig gemachten Psychodrama, über dessen Ideologie es sich zu diskutieren lohnt.
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