Aktueller, vielschichtiger und gesellschaftlich relevanter könnte «Tatami» nicht sein. Aufgebaut als mitreissender Sportthriller und inspiriert von wahren Gegebenheiten, erzählt der meisterhaft gespielte Film von Guy Nattiv und Zar Amir Ebrahimi die Geschichte einer iranischen Judoka, die sich für ihre eigene Karriere gegen das totalitäre Regime ihres Heimatlandes auflehnt und damit alles riskiert. Als wäre das nicht schon hochpolitisch genug, stammt das Projekt auch noch aus israelisch-iranischer Feder.
Es war ein historischer Moment, als Cast und Crew von «Tatami» an den Internationalen Filmfestspielen von Venedig 2023 über den roten Teppich schritten: nicht unbedingt wegen der durchs Band positiven Rückmeldungen und minutenlangen Standing-Ovations, sondern vielmehr, weil es sich um eine der weltweit ersten Koproduktionen zwischen israelischen und iranischen Filmemacher*innen handelte. Bis heute erkennt die iranische Regierung die Existenz Israels nicht offiziell an. Dementsprechend fand ein Grossteil der Produktion im Geheimen oder auf neutralem Boden statt – illegale Ein- und Ausreisen inklusive.
Diese politischen Spannungen sind es auch, die das Herzstück des Films von Guy Nattiv («Skin», «Golda») und Zar Amir Ebrahimi («Holy Spider», «Shayda») bilden. In Höchstform und mit guten Chancen auf die Goldmedaille macht sich die aufstrebende iranische Judoka Leila Hosseini (Arienne Mandi) mit ihrer Trainerin Maryam (Co-Regisseurin Ebrahimi selbst) auf den Weg zur Weltmeisterschaft in Georgien. Als sich die Möglichkeit eines Finales gegen die israelische Mitstreiterin Shani Lavi (Lir Katz) auftut, schreiten der iranische Judoverband und das Mullah-Regime ein und verbieten die weitere Teilnahme. Sie fordern Hosseini sogar auf, eine Verletzung vorzutäuschen und unverzüglich aus dem Turnier auszusteigen. Diese entscheidet sich – trotz des Bangens und Flehens ihrer Trainerin – dagegen und bringt damit nicht nur sich, sondern ihr ganzes Umfeld in Gefahr.
Soziale Missstände und politische Unterdrückung in einem sportlichen Wettkampf zu verpacken, ist ein schlauer Schachzug. Gerade noch blickte die ganze Welt nach Paris, wo sich die Besten der Besten an den Olympischen Spielen miteinander massen. So findet das Publikum einen viel leichteren Zugang zu einer Thematik, die nur schon geografisch weit weg und dadurch kaum vorstellbar scheint. Verstärkt durch das rasante Tempo des Films, ist die zuschauende Person unmittelbar Teil des Geschehens und begleitet die Hauptfigur hautnah und ohne Pause bei ihrem Kampf – physisch auf der Matte, psychisch bei Telefonterror, hitzigen Gesprächen und verzweifelten Heulkrämpfen. Die in kontrastreichem Schwarzweiss gehaltene Optik unterstreicht das zusätzlich und verleiht dem ganzen einen gewissen Hitchcock-Krimi-Charakter, was aus dem bewegenden Politdrama einen packenden Thriller macht.
«Die in kontrastreichem Schwarzweiss gehaltene Optik verleiht dem ganzen einen gewissen Hitchcock-Krimi-Charakter, was aus dem bewegenden Politdrama einen packenden Thriller macht.»
Die Grundlage des Drehbuchs bildet überdies ein wahrer Vorfall, der sich 2019 zwischen zwei männlichen Sportlern zutrug: Der iranische Judoka Saeid Mollaei musste aus der Weltmeisterschaft ausscheiden, um nicht gegen den Israeli Sagi Muki anzutreten. Trotzdem leuchtet es ein, dass die Hauptfiguren von «Tatami» allesamt weiblich sind: In Anbetracht der schrecklicken Hijab-Morde und der fortwährenden systematischen Unterdrückung durch die iranischen Machthaber ist es höchste Zeit, dass die iranischen Frauen zu Wort kommen. Leila Hosseini steht dabei stellvertretend für eine ganze Generation, die einem radikal misogynen System die Stirn bietet und dagegen ankämpft.
Dabei schwingen auch sehr persönliche Erfahrungen mit: Co-Regisseurin Ebrahimi, die im Film auch schauspielerisch glänzt, floh 2008 aus dem Iran, weil ein Ex-Freund aus Rache ein gemeinsames Sextape veröffentlicht hatte. Wäre sie in ihrer Heimat geblieben, hätten ihr eine mehrjährige Gefängnisstrafe und 99 Peitschenhiebe gedroht. Hinzu kam eine zehnjährige Sperre im iranischen Film- und Fernsehgeschäft. Der Mann, der das Video geleakt hatte, wurde zwar selber zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, kam nach zwei Monaten aber wieder frei – ohne weitere Konsequenzen.
«Die angesprochenen Themen treffen den Nerv der Zeit; das Gezeigte hinterlässt ein Ohnmachtsgefühl, macht gleichzeitig aber auch Hoffnung für die Zukunft.»
Dieser Schmerz und diese Wut sind es, die «Tatami» zu einem ganz besonderen Film machen. Die angesprochenen Themen treffen den Nerv der Zeit; das Gezeigte hinterlässt ein Ohnmachtsgefühl, macht gleichzeitig aber auch Hoffnung für die Zukunft. Als einziger grösserer Kritikpunkt bleibt in Erinnerung, dass einige Umstände und Entwicklungen der Geschichte fast zu milde ausfallen, um glaubhaft zu wirken: So akzeptiert Leilas Ehemann (Ash Goldeh) ohne jeglichen Widerspruch, dass seine Frau die Goldmedaille der eigenen Familie vorzieht, während der internationale Judoverband mit offenen Armen zu Hilfe eilt, um die Wogen bestmöglich zu glätten. Es wäre natürlich schön, wenn das in Realität alles so ablaufen würde – doch da nimmt sich der Film vielleicht eine künstlerische Freiheit zu viel. Denn der Kampf der iranischen Frauen hat gerade erst begonnen – und es wird sich zeigen, ob sie ihn überall, und nicht nur auf der Judomatte, gewinnen.
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Kinostart Deutschschweiz: 1.8.2024
Filmfakten: «Tatami» / Regie: Guy Nattiv, Zar Amir Ebrahimi / Mit: Arienne Mandi, Zar Amir Ebrahimi, Jaime Ray Newman, Nadine Marshall, Lir Katz, Ash Goldeh / Georgien, USA / 105 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Praesens-Film AG
Irgendwo zwischen Hitchcock-Krimi, Sportdrama und politischem Statement: «Tatami» hat das Publikum von der ersten Sekunde an fest im Griff und ist eine absolute Wucht.
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