Wenn ein Historienfilm begeistert, dann meistens, weil er das altehrwürdige Genre innovativ und subversiv angeht. Das kann «The Aeronauts» zwar nicht von sich behaupten – dafür glänzt Tom Harpers bildgewaltiges Ballonfahrt-Abenteuer mit ansteckendem Enthusiasmus für die Faszination Wissenschaft.
London, 1862: Die Hauptstadt des British Empire ist vom Forschungsfieber ergriffen. Nur wenige Jahre zuvor veröffentlichte Charles Darwin sein Buch zur Evolutionstheorie; am anderen Ende der Welt wird die Antarktis ausgekundschaftet; die Astrophysik ist im Begriff, sich als eigenständige Disziplin durchzusetzen. Und auch James Glaisher (Eddie Redmayne) will sich vor der Royal Society profilieren – und zwar indem er ihr die bahnbrechende Idee präsentiert, dass Wetterphänomene vorhersehbar sind. Doch um die skeptischen alten Herren vom Potenzial der Meteorologie zu überzeugen, bedarf es eines Publicity-Stunts: Also besteigt er zusammen mit der erfahrenen Aeronautin Amelia (Felicity Jones) einen Heissluftballon, um den bestehenden Höhenrekord von sieben Kilometern zu brechen. Über den Wolken warten allerdings Eiseskälte und unberechenbare Winde.
«‹The Aeronauts› gehört zu jener kuriosen Gattung von wissenschaftsfreundlichen Filmen, die es trotz unübersehbarer Mängel schaffen, mit ihrer positiven Darstellung des menschlichen Entdeckergeistes zutiefst inspirierend zu wirken.»
«The Aeronauts» gehört zu jener kuriosen Gattung von wissenschaftsfreundlichen Filmen, die es trotz unübersehbarer Mängel schaffen, mit ihrer positiven Darstellung des menschlichen Entdeckergeistes zutiefst inspirierend zu wirken. Solche Werke sind vergleichsweise selten – wohl nicht zuletzt, weil dieser Geist oft den Anfang von Ausbeutung und Genozid darstellte –, enthalten aber regelmässig atemberaubende Momente. So gehört etwa der Satz «I’m dying for something big and beautiful and greater than me» aus «The Martian» (2015) – gesprochen von einem auf dem Mars gestrandeten Astronauten – zu den radikalsten Äusserungen für die Weltraumforschung, die in Hollywood je zu hören waren. Unvergessen auch die Kamerafahrt von Thor Heyerdahls Floss bis zum Rand der Erdatmosphäre in «Kon-Tiki» (2012), mit der die Regisseure Joachim Rønning und Espen Sandberg den Zusammenhang aller irdischer Ökosysteme symbolisierten.
Mit viel künstlerischer Freiheit – angefangen mit Amelia, einem Amalgam aus den frühen Ballonfahrerinnen Sophie Blanchard und Margaret Graham, die beide nichts mit Glaisher am Hut hatten – erzielt Tom Harpers Adaption des Sachbuches «Falling Upwards» ähnlich berückende Ergebnisse. Praktisch jede Szene, die sich im unaufhaltsam steigenden Ballonkorb der beiden Hauptfiguren abspielt, zelebriert die erhabene Schönheit der Horizonterweiterung: der Blick über das viktorianische Südengland, die absolute Stille der Lüfte, der Schmetterling über den Wolken, die im Tageslicht sichtbaren Sterne.
«Dank den soliden Leistungen von Eddie Redmayne und Felicity Jones, denen erfrischenderweise keine Liebesbeziehung aufgebürdet wird, findet Harper sogar am Boden noch den einen oder anderen einprägsamen Moment.»
So lässt sich auch verkraften, dass sich «The Aeronauts» in seinen eingeschobenen Sequenzen über die Entstehung dieses waghalsigen Unterfangens nur wenig von einem typischen britischen Kostümdrama mit einer weitaus konventionelleren Prämisse unterscheidet. Dank den soliden Leistungen von Eddie Redmayne und Felicity Jones, denen erfrischenderweise keine Liebesbeziehung aufgebürdet wird, findet Harper sogar am Boden noch den einen oder anderen einprägsamen Moment.
Doch es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Film fernab des Erdbodens mit Abstand am besten funktioniert. Hier kann Kameramann George Steel mit Lichtspielereien und cleveren Kontrasten zwischen dem häuslich sicheren Korb und dem schwindelerregenden Abgrund punkten, begleitet von der atmosphärischen Musik von «Gravity»-Komponist Steven Price. In diesen Szenen erwacht die Geschichte zum Leben: Es wird spürbar, wie faszinierend und erschreckend zugleich es gewesen sein muss, sich im Zeitalter der Kutsche unter den ersten fliegenden Menschen zu wähnen.
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Kinostart Deutschschweiz: 6.2.2020
Filmfakten: «The Aeronauts» / Regie: Tom Harper / Mit: Eddie Redmayne, Felicity Jones, Himesh Patel, Tom Courtenay, Phoebe Fox, Rebecca Front, Vincent Perez / Grossbritannien, USA / 100 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Ascot Elite Entertainment Group
«The Aeronauts» ist inspirierendes Abenteuerkino, solange der Fokus auf den beiden Hauptfiguren in ihrem Ballon liegt. Die Rückblenden zum Alltag am Boden fallen dagegen zu steif aus.
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[…] | Alan Mattli @ Maximum Cinema […]