In der Küche brodelt, zischt und knallt es: Auch in der zweiten Staffel von Christopher Storers «The Bear» kocht das Personal um Chef Carmen Berzatto am emotionalen Limit und stellt die Nerven des Publikums auf die Probe. Doch unter den hektischen Montagesequenzen, dem Geschrei und jede Menger «Yes Chef!»-s köcheln weiterhin stille existenzielle Fragen.
Das Restaurant steht und fällt mit der Gabel – das lernt der hitzige Richie Jerimovich (ein grossartiger Ebon Moss-Bachrach) in der siebten Episode («Forks») der neuen Staffel von «The Bear», als er für eine Woche als Lehrling und Gabelpolierer in ein Chicagoer Sternerestaurant geschickt wird. Zwar nur ein Detail, ein Instrument, um das Spitzenessen in den Mund zu befördern, ist die sorgfältig polierte Gabel Sinnbild für die Aufmerksamkeit, das Auge fürs Detail und den Respekt, die ins Restaurant-Erlebnis fliessen sollten.
Dass sich hinter solchen Lehren eine tiefere Metapher über das Leben und den Wert unserer Beziehungen verbirgt, wird jenen klar sein, die mit der adrenalingeladenen ersten Staffel von Christopher Storers «The Bear» vertraut sind. Dort übernahm Carmen «Carmy» Berzatto (Jeremy Allen White) den heruntergewirtschafteten Sandwichladen seines verstorbenen Bruders, traf auf eine mehr oder minder renitente Truppe von Küchenpersonal und versuchte, den Laden vor dem physischen, wirtschaftlichen und emotionalen Kollaps zu bewahren. Trauer, Machtkämpfe und der endlose Stress des Kochens unter Zeitdruck: Die Restaurantküche wurde zum Dampfkochtopf für unterdrückte Emotionen – mit explosiven Resultaten.

Jeremy Allen White in «The Bear» / © 2022 Disney and its related entities / CR: Chuck Hodes/FX
Die zweite Staffel beginnt mit der Schliessung des Sandwichladens «The Beef» und den Umbauarbeiten zum Gourmet-Restaurant «The Bear». Statt Kochen steht das Planen im Zentrum, und das Küchenpersonal wird auf individuelle Lehrreisen geschickt: Der besonnene Patissier Marcus (Lionel Boyce) soll sein Zuckerhandwerk in Kopenhagen verfeinern; das Küchen-Veteranen-Duo Tina (Liza Colón-Zayas) und Ebra (Edwin Lee Gibson) drücken die Kochschulbank; der sture Stänkerer Richie lernt beim Gabelpolieren den Wert der Teamarbeit; und Carmy und seine ambitionierte Souschefin Sidney (Ayo Edebiri) tüfteln am neuen Menü und löschen nebenher sämtliche Feuer der Umbauarbeiten – buchstäblich und metaphorisch.
«‹The Bear› schafft es, mit der Zubereitung eines Sandwiches oder dem Flicken einer Gasleitung mehr Herzrasen zu verursachen als so mancher Kriegsfilm.»
Der Stress der ersten Staffel mit ihren hektischen Montagesequenzen und klaustrophobischen Close-ups, dem eindringlichen Sounddesign und eskalierenden Geschrei ist noch immer präsent und sorgt für reichlich Adrenalin: «The Bear» schafft es, mit der Zubereitung eines Sandwiches oder dem Flicken einer Gasleitung mehr Herzrasen zu verursachen als so mancher Kriegsfilm. Doch die zweite Staffel nutzt das Potenzial der Prämisse, um sich Zeit für ruhige Oasen, Figurenzeichnungen und Beziehungen zu lassen. Mehr denn je geht es der Serie darum, das Restaurant als einen Ort der selbstgewählten Familie, der Sinngebung und der persönlichen Entfaltung zu etablieren.

Ayo Edebiri und Lionel Boyce in «The Bear» / © 2022 Disney and its related entities / CR: Chuck Hodes/FX
Zurück also zur Gabel und der Charakterstudie des Richie Jerimovich, welche die Leitmotive der Serie auf den Punkt bringen. Denn im Verlauf der zehn Episoden wird Richie nicht nur vom miesgelaunten Unsympathen auf Sinnsuche zu einem (Anzug-)tragenden Pfeiler des Restaurants, sondern lernt auch, worauf es wirklich ankommt – sowohl in der Gastronomie als auch im Leben: den Menschen zuzuhören, Hilfe zu leisten, Freude zu bereiten und sich selbst als einen Teil eines grösseren Ganzen zu sehen.
«Meisterlich wandelt die Serie zwischen überbordenden Küchenkatastrophen, deliziöser Essensfotografie und intimen Momenten, in denen ein Omelett oder ein geschälter Pilz zu Symbolen der Zuneigung und Sorgfalt werden.»
So simpel und sentimental es klingen mag: Der Fokus gelingt. Jede der Figuren hadert auf ihre Weise damit, ihren Platz im sozialen Gefüge zu finden, den Sinn im eigenen Leben und den eigenen Aufgaben zu erkennen. Meisterlich wandelt die Serie zwischen überbordenden Küchenkatastrophen, deliziöser Essensfotografie und intimen Momenten, in denen ein Omelett oder ein geschälter Pilz zu Symbolen der Zuneigung und Sorgfalt werden.

Liza Colón-Zayas und Edwin Lee Gibson in «The Bear» / © 2022 Disney and its related entities / CR: Chuck Hodes/FX
«‹The Bear› ist nicht umsonst eine der meistgelobten Serien des letzten Jahres.»
So positioniert sich «The Bear» nicht nur als idealistisches Gegenstück zu zynischen Satiren wie «The Menu» (2022), welche die toxische Ambitions- und Konsumkultur der Gourmetwelt anprangern, sondern bietet auch «food for thought» dafür, inwiefern Gemeinschaft und Respekt auch die notorischsten Arbeitsumfelder revolutionieren könnten.
«The Bear» ist nicht umsonst eine der meistgelobten Serien des letzten Jahres: Ihr Verständnis für Figuren und ihre Beziehungen zueinander ist herausragend und wird getragen von einem Ensemble in Höchstform, dem es gelingt, alltägliche Gespräche, Gestänker und Witzeleien mit Indie-Natürlichkeit und zärtlich-zänkischer Vertrautheit vorzutragen. Vermengt mit einem exzellenten Gespür für Spannung, Drama und (tragischen) Witz ist das Resultat – ganz einfach – köstlich.
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Serienfakten: «The Bear» (2. Staffel) / Creator: Christopher Storer / Mit: Jeremy Allen White, Ebon Moss-Bachrach, Ayo Edebiri, Lionel Boyce, Liza Colón-Zayas, Abby Elliott, Matty Matheson, Edwin Lee Gibson / USA / 10 Episoden à 26–66 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © 2022 Disney and its related entities
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