Zehn Jahre nach seinem angeblich letzten Film will es Anime-Meister Hayao Miyazaki doch noch einmal wissen: Seine bildgewaltige Trauma-Verarbeitung «The Boy and the Heron» ist ein gelungenes Werk mit leichten erzählerischen Schwächen.
Keine Trailer, keine Filmbilder, keine Werbung – das zumindest war der Plan, den sich das renommierte japanische Animationsstudio Ghibli für «The Boy and the Heron» zurechtgelegt hatte. Diese Rechnung ging auf, als der Film im Juli 2023 in Japan in die Kinos kam: Der Name Hayao Miyazaki («Princess Mononoke», «Spirited Away») reichte, um dem Film einen Rekordstart und ein solides Einspielergebnis zu bescheren.
Verlässt man Japan jedoch, sieht es schnell anders aus: In Europa und den USA – dort, wo Ghibli-Filme wie «The Tale of the Princess Kaguya» (2013) von Oscar-Wähler*innen auch gerne mal als eines dieser «Chinese fucking things» beschimpft werden – ist Miyazaki ein Filmemacher wie jeder andere; auch für ihn gelten dieselben Spielregeln. Heisst: Trailer, Filmbilder und Werbung. Und so sickerten über den Sommer mit dem Verkauf der Rechte für den internationalen Markt auch die ersten Ausschnitte aus dem bis dahin strikt geheim gehaltenen Werk zu uns.
«The Boy and the Heron» ist im Pazifikkrieg angesiedelt und erzählt vom jungen Mahito (gesprochen von Sōma Santoki), der nach dem Tod seiner Mutter aufs Land zieht. Die neuen Umstände und das neue Umfeld bereiten ihm Mühe – und zu allem Übel fordert ihn auch immer wieder ein mysteriöser Reiher (Masaki Suda) heraus. Hayao Miyazakis erster Film in zehn Jahren ist – wie schon sein letztes Werk «The Wind Rises» (2013) – ein ernster, erwachsener und auch sehr persönlicher Film.
Der 82-jährige Regisseur, der seit bald vier Jahrzehnten damit beschäftigt ist, seine eigenen Kriegstraumata zu verarbeiten, wirft diesmal mit ganz grossen existenziellen Fragen um sich, die ihn augenscheinlich auch selber umtreiben: Wozu in einer Welt leben, die dermassen unheilvoll ist? Der japanische Titel des Films – einem Jugendbuch entlehnt – hebt diese Frage gleich ins Zentrum: «Kimitachi wa Dō Ikiru ka», fragt dieser – auf deutsch: «Wie lebt ihr?».
«Miyazaki wäre nicht Miyazaki, wenn er nicht früher oder später zu seinen Stärken zurückkehren würde.»
Diese thematische Schwere erdrückt den Film zu Beginn ein wenig, Miyazakis zwölfter Streich braucht ein Weilchen, bis er in Gang kommt. «The Boy and the Heron» schlägt zunächst ein gemächliches Tempo an und wirkt dadurch streckenweise eher wie eine filmische Ehrerbietung eines Fans als ein neues Werk des grossen Filmemachers. Da hilft es wenig, dass uns der Film mit dem jungen Mahito auch noch einen uncharismatischen und nur schwer zugänglichen Protagonisten anbietet, der es uns zusätzlich erschwert, in den Film hineinzufinden.
Doch Miyazaki wäre nicht Miyazaki, wenn er nicht früher oder später zu seinen Stärken zurückkehren würde. Genauso, wie wir uns mit zunehmender Laufzeit immer mehr mit Mahito anfreunden können, nimmt auch «The Boy and the Heron» ab dem zweiten Akt rasant Fahrt auf. Das schleppende Tempo des Anfangsdrittels rächt sich hier aber gleich doppelt, denn nun geht alles viel zu schnell und der Film hüpft von Schauplatz zu Schauplatz, von Plot-Point zu Plot-Point.
Sicher, auch «The Boy and the Heron» erfordert, wie alle Werke des Animationsregisseurs, wahrscheinlich noch einige Sichtungen, bevor sich einem der Film vollends erschliesst – doch auch nach dem ersten Eindruck lässt sich festhalten, dass der ungleichmässige Erzählrhythmus des Films selbst für Miyazaki-Verhältnisse untypisch ist.
«Wie schon in seinen früheren Werken entführt uns der Filmemacher auch hier in eine fabelhafte und bunte Welt voller liebevoller Details und einzigartiger Wesen.»
Wo «The Boy and the Heron» erzählerisch holpert, punktet er dafür mit einmal mehr atemberaubenden Bildern. Wie schon in seinen früheren Werken «Spirited Away» (2001) oder «Howl’s Moving Castle» (2005) entführt uns der Filmemacher auch hier in eine fabelhafte und bunte Welt voller liebevoller Details und einzigartiger Wesen – wie etwa dem titelgebenden Reiher oder einer Schar herrlich mordlustiger Wellensittiche. Spätestens mit den messerwetzenden Papageien sorgt der generell eher ernsthafte Film auch für Lacher.
«The Boy and the Heron» ist Hayao Miyazakis wohl schwerster Film – ein Werk, das seinen Protagonisten nicht nur mit dem Erwachsenwerden, sondern auch mit dem Tod und allerlei Traumata konfrontiert. Einem Testpublikum des Films soll der Regisseur angeblich mitgeteilt haben, dass es, falls es den Film nicht verstanden habe, beruhigt sein könne: Er selber verstehe ihn auch nicht.
Tatsächlich ist «The Boy and the Heron» mit seiner etwas gar sprunghaften Erzählweise ein schwer fassbares und noch schwieriger zu entschlüsselndes Werk, das viele Fragen ganz bewusst unbeantwortet lässt. Wer sich im Vorfeld gefragt hat, ob Miyazaki, bedingt durch die fast zehnjährige Schaffenspause, sein Handwerk verlernt hat, bekommt mit diesem bildgewaltigen, zauberhaften Film eine deutliche Antwort serviert.
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Kinostart Deutschschweiz: 23.11.2023
Filmfakten: «The Boy and the Heron» («Kimitachi wa Dō Ikiru ka») / Regie: Hayao Miyazaki / Mit: Sōma Santoki, Masaki Suda, Aimyon, Yoshino Kimura, Shōhei Hino, Ko Shibasaki, Takuya Kimura / Japan / 124 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Studio Ghibli / Frenetic Films AG
«The Boy and the Heron» macht seine erzählerische Schwächen mit einer erwachsenen Story und einer zauberhaften Welt wett. Animationsmeister Hayao Miyazaki hat es immer noch drauf!
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