Damien Chazelle zeigte bereits mit «Whiplash» (2014) und «La La Land» (2016), wie man die Liebe zur Musik sowohl schmerzhaft perfektionistisch als auch voller Leichtigkeit in die filmische Welt einbetten kann. Nun betreten er und Autor Jack Thorne mit «The Eddy» neues musikalisches und geografisches Terrain: Die Netflix-Miniserie spielt im Paris der Gegenwart und lässt uns in die Welt des Jazz eintauchen, die einen so schnell nicht mehr loslässt.
Der titelgebende Jazzclub ist Schauplatz musikalischer Leidenschaft, menschlicher Tragödien, Liebe, Streit und krimineller Machenschaften. In sieben Episoden wird die Geschichte des New Yorker Pianisten Elliot aus den Perspektiven der einzelnen Protagonist*innen des multikulturellen Paris dargestellt, um in der letzten Folge Ende und Anfang neu zu ordnen.
Wer ein Remake des legendären «An American in Paris» von Vincente Minnelli (1951) erwartet, wird enttäuscht. Denn «The Eddy» ist ein schlecht laufender Jazzclub in einer der schäbigen Seitenstrassen von Paris, wo sich die multikulturellen Schicksale kreuzen, Plattenbauten und Autobahnbrücken der Postkartenidylle einen Strich durch die Rechnung machen, und wo im Hinterhof gedealt und gestohlene Ware freigekauft wird. Trotz der grossen und kleinen Probleme im Leben der Protagonist*innen ist es die Musik, die im Vordergrund steht und sehr real veranschaulicht, wie schwer es ist, von der Musik allein leben zu können.
Das ist aber nicht das einzige Problem von Clubbesitzer Elliot Udo (André Holland), einst gefeierter Pianist aus New York, der zusammen mit seinem Partner Farid (Tahar Rahim) den Club am Leben erhalten will und hofft, einen Plattenvertrag für die hauseigene Band zu bekommen. Elliot komponiert Text und Musik, ohne jemals selbst auf der Bühne zu stehen, seit er New York verlassen hat, während Farid durch undurchsichtige Geschäfte in kriminelle Machenschaften verwickelt wird, um den Live-Club vor dem finanziellen Ruin zu retten. Am Ende der ersten Episode wird Farid ermordet, woraufhin Zivko (Alexis Manenti), ein polnischer Handlanger eines Drogenkartells, Geld von Elliot zurückfordert, von dem dieser nichts weiss. Und dann schneit obendrein auch noch Elliots pubertierende Tochter Julie (Amandla Stenberg) aus New York herein, um bei ihrem völlig entfremdeten Vater zu leben.
«Trotz der komplizierten Probleme von komplizierten Menschen spielt der Jazz eine zentrale und handlungstragende Rolle.»
Die Geschichte wird immer verstrickter, da Elliot sich weigert, mit der Polizei zu kooperieren, aus Angst um seine Tochter, die alles daran setzt, um aus der neuen Schule zu fliegen – und weil er versucht, die Fäden selbst in der Hand zu halten, um Tochter, Club und Farids Witwe Amira (Leïla Bekhti) zu beschützen. Die Konfliktherde verdichten sich, und Elliots Schweigen und Verbissenheit stellen die Zusehenden zeitweise auf eine harte Probe.
Trotz der komplizierten Probleme von komplizierten Menschen spielt der Jazz eine zentrale und handlungstragende Rolle und sorgt bei aufgebauter Spannung in allen Episoden für atmosphärische Momente, die einen tiefen Einblick in die Charaktere erlauben. Die bewegenden Momente der Figuren werden dadurch unterstrichen, dass jede Episode den Namen einer der Hauptfiguren trägt und deren Sorgen und Nöte näher beleuchtet. Das kosmopolitische Miteinander wird fast zu oft durch die nah an die Personen heranrückende, agile Handkamera verstärkt – eine Premiere für eine Netflix-Produktion, die in etwas kleineren Dosen auch wirksam gewesen wäre. Dennoch nimmt man Anteil am Schicksal dieser liebevoll gezeichneten Figuren.
«Musik als leidenschaftliche Existenzgrundlage steht stets im Vordergrund und ist nie beiläufig oder nur im Hintergrund zu hören.»
Die Musik als leidenschaftliche Existenzgrundlage steht in allen acht Episoden stets im Vordergrund und ist nie beiläufig oder nur im Hintergrund zu hören. Für Elliot ist sie zudem die einzige Möglichkeit, überhaupt noch zu leben, wie er nach langem Schweigen seiner Ex-Geliebten und Leadsängerin Maja (Joanna Kulig) zu verstehen gibt.
Dass der Serienkomponist Randy Kerber gleich selbst als Pianist mitwirkt, zeigt überdies, dass es funktionieren kann, wenn Musiker*innen schauspielern und Schauspieler*innen musizieren. Auch der bekannte Saxofonist Jowee Omicil sowie die in Basel ausgebildete Schlagzeugerin Lada Obradovic können nebst Ludovic Louis (Trompete) und Damian Nueva Cortes (Kontrabass) überzeugen. Die polnische Schauspielerin Joanna Kulig («Cold War») zeigt derweil als Leadsängerin, wie nahe sich Paris und Polen in der Liebe zum Jazz stehen; und auch André Holland («Moonlight», «High Flying Bird»), als charismatischer, zutiefst verletzter Elliot, kann seine Trauer sehr authentisch über die Musik ausleben.
The Eddy ist ihr Zuhause, egal ob auf der Bühne, an der Bar oder im Büro über dem Club. Hier wird geprobt, gestritten, geliebt, und hier laufen die Fäden gegen das organisierte Verbrechen, Vater-Tochter Konflikte und die Musik zusammen. Wer dieses Paris als Schmelztiegel der unterschiedlichen kulturellen Einflüsse noch intensiver erleben möchte, dem wird empfohlen, die Serie in der Originalsprache (Englisch, Französisch, Arabisch und Polnisch) anzuschauen, auch wenn man dafür sehr viele Untertitel in Kauf nehmen muss. Die deutschen Synchronstimmen wirken nämlich sehr routiniert und kalt und berauben die mehrsprachigen Dialoge ihrer Intensität.
«Erstens lässt das reale Paris kein Vincente-Minnelli-Happy-End zu, und zweitens deutet die fein nuancierte Zuversicht der Figuren am Ende der Serie darauf hin, dass man auf eine zweite Staffel mit noch mehr guter Musik hoffen darf.»
Die Geschichte von «The Eddy» wird am Ende nicht restlos aufgelöst, und das ist gut so; denn erstens lässt das reale Paris kein Vincente-Minnelli-Happy-End zu, und zweitens deutet die fein nuancierte Zuversicht der Figuren am Ende der Serie darauf hin, dass man auf eine zweite Staffel mit noch mehr guter Musik hoffen darf.
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Serienfakten: «The Eddy» / Idee und Drehbuch: Jack Thorne / Regie (je zwei Episoden): Damien Chazelle, Houda Benyamina, Laïla Marrakchi, Alan Poul / Mit: André Holland, Amandla Stenberg, Leïla Bekhti, Adil Dehbi, Tahar Rahim, Damian Nueva Cortes, Ludovic Louis, Jowee Omicil, Joanna Kulig, Lada Obradovic, Alexis Manenti / Musik: Randy Kerber, Glen Ballard / USA, Frankreich / 8 Episoden à 53–69 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Netflix
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