Mehrere Jahre nach Abschluss der Dreharbeiten wurde «The Empty Man», das Spielfilmdebüt von Regisseur David Prior, im vergangenen Oktober endlich aus dem Studiokeller geholt und ohne viel Aufhebens per Video on Demand erhältlich gemacht. Der ambitionierte Horrorfilm hätte Besseres verdient.
Das US-Horrorgenre hat es schon immer hervorragend verstanden, sich an die wandelbaren Geschmäcker und Ängste seines Publikums anzupassen: In den Fünfzigerjahren ersetzten sowjetisch angehauchte Ausserirdische klassische Gruselmotive wie Vampire und Werwölfe. 30 Jahre später reflektierten Michael Myers, Freddy Krueger und Konsorten die Paranoia vor Serienmördern wie Charles Manson und Ted Bundy. Mit dem Internetzeitalter brach auch die Blütezeit von Found-Footage («The Blair Witch Project») und Torture-Porn («Saw») an. Seit einigen Jahren sorgen der emotionale Horror eines Ari Aster («Hereditary», «Midsommar») und die gesellschaftskritischen Schocker von Jordan Peele («Get Out», «Us») für Furore.
Und nun scheinen Horrorfilmschaffende, in Werken wie «The Bye Bye Man» (2017), «Slender Man» (2018) oder der Anthologieserie «Channel Zero» (2016–2018), auch langsam das Potenzial zu entdecken, das in den einschlägigen Ecken des Internets steckt: Auf Plattformen wie Reddit oder Tumblr kursiert schon seit den 2000er Jahren das digitale Pendant zur Lagerfeuer-Geistergeschichte: In sogenannten «Creepypastas» – ein Wortspiel auf «creepy» («gruselig») und «copy-paste» – werden urbane Legenden über unheimliche Unheilsboten, paranormale Phänomene und zeitgemässe Monster wie Jeff the Killer oder den Slender Man erzählt.
«Der ‹Empty Man› ist eine Horrorkreatur, die sich angeblich rufen lässt, indem man auf einer Brücke in eine leere Flasche pustet. Am ersten Tag hört man ihn, am zweiten Tag sieht man ihn, am dritten Tag holt er jene, die ihn beschworen haben.»
Bewegten sich Creepypasta-Filme und -Serien qualitativ bislang aber auf einem eher tiefen Niveau, besteht nach «The Empty Man» Grund zur Hoffnung auf eine bessere Zukunft für das Subgenre. Denn David Priors sehr freie Adaption der gleichnamigen Comicreihe von Cullen Bunn benutzt eine klassische Creepypasta-Prämisse hauptsächlich als Mittel zum Zweck: Der «Empty Man» ist eine Horrorkreatur, die sich angeblich rufen lässt, indem man auf einer Brücke in eine leere Flasche pustet. Am ersten Tag hört man ihn, am zweiten Tag sieht man ihn, am dritten Tag holt er jene, die ihn beschworen haben. Das lernt der verwitwete Ex-Polizist James Lasombra (James Badge Dale) im Zuge seiner Suche nach dem vermissten Teenager Amanda (Sasha Frolova) – doch es dauert nicht lange, bis ihn seine Ermittlungen in noch rätselhaftere Gefilde führen und er sich mit den Grenzen des menschlichen Bewusstseins auseinandersetzen muss.
Prior, der bisher hauptsächlich als Behind-the-Scenes-Videoregisseur auf Sets von David–Fincher-Filmen in Erscheinung getreten ist, lässt in seinem Langspielfilmdebüt keine falsche Bescheidenheit walten: «The Empty Man» dauert mehr als zwei Stunden, beginnt mit einem 22-minütigen Prolog, der als in sich geschlossener Kurzfilm funktioniert, geriert sich mitunter als Milieustudie des amerikanischen «Heartland» und hat letztlich mehr mit philosophischen Gedankenexperimenten als mit herkömmlichem Slender-Man-Grusel zu tun.
«‹The Empty Man› dauert mehr als zwei Stunden, beginnt mit einem 22-minütigen Prolog, der als in sich geschlossener Kurzfilm funktioniert, geriert sich mitunter als Milieustudie des amerikanischen ‹Heartland› und hat letztlich mehr mit philosophischen Gedankenexperimenten als mit herkömmlichem Slender-Man-Grusel zu tun.»
Weitgehend ohne Horrorversatzstücke, dafür mit der Geduld eines Fincher’schen Kriminaldramas, wird während der ersten Stunde gezeigt, wie James in der düsteren postindustriellen Tristesse des Grossraums St. Louis nach Hinweisen auf Amandas Verbleib sucht und, in bester «It Follows»-Manier, vor allem perspektivlose, deprimierte Jugendliche findet. Die zweite Stunde ist reicher an unheimlichen Geräuschen, bösen Träumen, paranoid stimmenden Machenschaften und eindringlichen Klängen auf dem Score von Christopher Young und Brian «Lustmord» Williams («First Reformed»), liefert jedoch auch kaum eine Antwort, ohne eine neue Frage aufzuwerfen. Die Trennlinie zwischen Realität und Gedankenwelt bleibt bis zuletzt verschwommen.
«Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein», zitiert ein Sektenführer (Stephen Root) einen Schlüsselsatz des nihilistischen Denkers Friedrich Nietzsche – und spielt damit auch auf das Horrorverständnis des Films an: Wenn man sich ohnehin vor ihm fürchtet, ist es überhaupt erheblich, ob der «Empty Man» echt ist oder nur ein Schreckgespenst im Dunkeln? Prior kombiniert Nihilismus mit wesensverwandten Denkansätzen – der Prolog spielt im buddhistisch geprägten Bhutan, Amanda und ihre Clique gehen auf eine Highschool, die nach dem Sprachphilosophen Jacques Derrida benannt ist – und verdichtet diese Bezüge zu einer alles durchziehenden Urangst: vor der Leere des Universums, vor der Vorstellung, dass jedweder «Sinn» darin eine menschengemachte Illusion ist.
«Prior kombiniert Nihilismus mit wesensverwandten Denkansätzen und verdichtet diese Bezüge zu einer alles durchziehenden Urangst: vor der Leere des Universums, vor der Vorstellung, dass jedweder ‹Sinn› darin eine menschengemachte Illusion ist.»
«The Empty Man» fordert heraus und verweigert sich – mit Ausnahme einiger etwas ungelenker Zugeständnisse an den Sektenschocker à la «Rosemary’s Baby» (1968) – den einfachen Horrorkonventionen. Dass Priors 2017 gedrehter Film, neben einer ganzen Reihe administrativer Schwierigkeiten, auch lange darum bangen musste, von der neuen Disney-Tochtergesellschaft 21st Century Studios überhaupt zur Premiere freigegeben zu werden, überrascht daher kaum. Umso wichtiger, dass Freund*innen des eigenwilligen, intelligenten Hollywood-Genrekinos «The Empty Man» davor bewahren, im VOD-Orkus zu verschwinden.
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Filmfakten: «The Empty Man» / Regie: David Prior / Mit: James Badge Dale, Marin Ireland, Sasha Frolova, Stephen Root, Aaron Poole / USA / 137 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © 2020 20th Century Studios. All Rights Reserved / Walt Disney Studios
Der von seinem Studio enttäuschend stiefmütterlich behandelte «The Empty Man» ist ein tückischer Horrorfilm, der bekannte Konventionen unterläuft und deshalb umso länger nachhallt.
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