Thematisch mag Steven Spielbergs «The Fabelmans» dazu einladen, ihn als kitschig-selbsverliebten filmischen Nostalgietrip abzutun – doch das autobiografische Familiendrama ist eine eindrückliche Demonstration von Spielbergs Können, Unterhaltungswert und emotionalen Tiefang miteinander zu verbinden.
Kein Zweifel, Steven Spielberg ist einer der grössten Namen der Filmgeschichte. Er ritt die New-Hollywood-Welle in den Siebzigerjahren, begründete mit «Jaws» (1975), «E.T. the Extra-Terrestrial» (1982) und der originalen «Indiana Jones»-Trilogie (1981–1989) den modernen Blockbuster und gilt seit mehr 30 Jahren als Synonym für populistische Leinwandunterhaltung, bei der sich brillantes Handwerk und niederschwelliger Anspruch optimal ergänzen.
Doch die Zeiten haben sich geändert: Der US-Blockbuster ist franchisenlastiger und fliessbandartiger geworden; Stoffe, die sich nicht in eine bestehende «Intellectual Property» einordnen lassen, haben es zunehmend schwer, genug Publikum zu finden, um ihre Existenz ökonomisch zu rechtfertigen. Bis vor ein paar Jahren schien Spielberg noch immun gegen diese Entwicklungen; sein vorletzter Film, die eher mittelmässige Romanadaption «Ready Player One» (2018), knackte gar die 500-Millionen-Marke. Dann aber erlitt sein hervorragendes Musical-Remake «West Side Story» (2021) Schiffbruch an den Kinokassen, und auch sein neuestes Werk, das Familiendrama «The Fabelmans», bekundet noch Mühe damit, die grossen Massen von sich zu überzeugen.
«‹The Fabelmans› erzählt von Spielbergs eigenen wegweisenden Jugendjahren und dem Erwachen seiner Leidenschaft für den Film und das Leben hinter der Kamera – und bedient damit ein Subgenre, welches das eine oder andere Publikumsmitglied langsam, aber sicher satthaben dürfte.»
Ein Grund dafür könnte die Thematik sein, derer sich Spielberg in seiner 35. Regiearbeit annimmt: Denn «The Fabelmans» erzählt von seinen eigenen wegweisenden Jugendjahren und dem Erwachen seiner Leidenschaft für den Film und das Leben hinter der Kamera – und bedient damit ein Subgenre, welches das eine oder andere Publikumsmitglied langsam, aber sicher satthaben dürfte. Cinephile Memoiren, ob klassisch autobiografisch oder auf das Einfangen eines aus Kindertagen bekannten Milieus bedacht, haben Hochkonjunktur, gerade bei den alteingesessenen weissen Männern des populären Autorenkinos: Alfonso Cuarón («Roma»), Quentin Tarantino («Once Upon a Time in Hollywood»), Paolo Sorrentino («È stata la mano di Dio»), Paul Thomas Anderson («Licorice Pizza»), Kenneth Branagh («Belfast»), James Gray («Armageddon Time») – sie alle machten es sich unlängst zur Aufgabe, ihr Publikum mit den prägenden Erlebnissen, Orten und Filmen ihrer Kindheit vertraut zu machen.
Doch es ist just dieser Überfluss an Auteur-Kindheitserinnerungen, der unterstreicht, dass Spielberg kreativ und formal auch im Alter von 76 Jahren noch immer in einer ganz eigenen Liga spielt. «The Fabelmans» ist die fiktionalisierte Geschichte seiner Jugend in New Jersey, Arizona und Kalifornien in den Fünfziger- und Sechzigerjahren und beginnt mit dem sechsjährigen Sammy Fabelman (Mateo Zoryan Francis-DeFord), der zum ersten Mal mit seinen Eltern Mitzi (Michelle Williams) und Burt (Paul Dano) ins Kino gehen darf. Zu sehen gibt es Cecil B. DeMilles episches Leinwandspektakel «The Greatest Show on Earth» (1952).
Manche fühlen sich in diesen Anfangsminuten vielleicht unangenehm an Kenneth Branaghs zuckersüss-sentimentalen «Belfast» (2021) erinnert, jene filmische Autobiografie, die Spielbergs konzeptuell wohl am meisten ähnelt: Auch dort geht der junge, dem Regisseur nachempfundene Protagonist ins lokale Lichtspielhaus – und verlässt es mit funkelnden Augen und einem neuen Lebensziel.
Doch während der Kinobesuch in Branaghs Film einen dramaturgischen Höhe- und biografischen Wendepunkt darstellt und zum hoffnungslos überromantisierten Symbol für Aufbruch, Freiheit und Selbstverwirklichung wird, stellt ihn Spielberg an den Anfang seines Werdegangs und belädt ihn nicht mit nostalgischen Klischees, sondern stilisiert ihn zum traumatischen Ereignis: Cecil B. DeMille lässt auf der Leinwand einen Zug entgleisen – und anstatt der oft beschworenen Magie der siebten Kunst zu verfallen, erleidet der kleine Sammy eine waschechte Panikattacke.
Sosehr Computeringenieur Burt auch versucht, ihm die profane Mechanik hinter den Bildern zu erklären, sosehr Pianistin Mitzi auch die fantastische Kraft des Kinos beschwört: Sammy wird so lange von Albträumen geplagt, bis er eine Modelleisenbahn geschenkt bekommt, mit der er selber über das Entgleisen des Zuges bestimmen kann. Als ihm seine Mutter zudem – zwecks Materialschonung – erlaubt, eine allerletzte Karambolage mit Burts Kamera aufzunehmen, ist Sammys lebenslange Obsession besiegelt.
«In Spielbergs Darstellung ist das Kino weder ein hehres Allerheilmittel noch ein befreiendes Instrument des persönlichen Ausdrucks. Vielmehr handelt sein Film davon, wie ein verängstigter jüdischer Junge im Medium des bewegten Bildes die Werkzeuge findet, um mit seinen eigenen Komplexen fertigzuwerden.»
Spätestens hier wird klar, dass Spielberg in «The Fabelmans» nicht (nur) daran interessiert ist, eine narzisstische Ehrenrunde zu drehen. In seiner Darstellung ist das Kino weder ein hehres Allerheilmittel noch ein befreiendes Instrument des persönlichen Ausdrucks. Vielmehr handelt sein Film davon, wie ein verängstigter jüdischer Junge im Medium des bewegten Bildes die Werkzeuge findet, um mit seinen eigenen Komplexen fertigzuwerden – und wie genau diese Werkzeuge zur Selbsttherapie den Zerfall seiner Familie vorantreiben.
«The Fabelmans» arbeitet sich, Episode um Episode, mal absurd-komisch, mal herzzerreissend-tragisch, durch die individuellen und kollektiven Abenteuer und Krisen der titelgebenden Familie: die philosophischen Differenzen zwischen Burt und Mitzi, die emotionalen Folgen der jüdischen Diaspora, den zwiespältigen Einfluss von Burts Freund Bennie (Seth Rogen), die karrierebedingten Umzüge, den kalifornischen Antisemitismus. Und mittendrin steht Sammy (ab Teenageralter gespielt von Gabriel LaBelle), der im Kino Western und Kriegsfilme verschlingt und danach mit seinen Pfadfinder- und Schulkamerad*innen seine eigenen Variationen darauf dreht – und sich zugleich immer mehr von seiner Familie zu entfremden scheint.
«Family, art, it’s going to tear you in two», bläut ihm sein gruseliger Entertainment-Onkel Boris (ein herrlicher Judd Hirsch) ein, und hat damit nicht ganz Unrecht: Während Sammys Schwestern (Julia Butters, Keeley Karsten, Sophia Kopera) darunter leiden, mitansehen zu müssen, wie sich Mitzi und Burt zunehmend auseinanderleben, zieht sich Sammy in seine Kunst zurück, die es ihm erlaubt, Geschichten und Situationen nach seinem Gusto zu inszenieren und zuzuschneiden.
In einem ganz besonders ergreifenden Moment fechten die Fabelman-Eltern einen schicksalhaften Streit vor versammelter Familie aus; doch Sammys Blick wandert schon bald zu einem Spiegel an der Wand. Eine simple Abfolge von Kameraeinstellungen unterstreicht sowohl Spielbergs effiziente Bildsprache als auch die schmerzhafte Selbstdiagnose, die hier unternommen wird: Sammy mag das Produkt seiner Eltern sein – Techniker und Ästhet in einem –, doch letzten Endes kann er sich nur auf dem Weg der filmischen Projektion in ihre nur allzu menschlichen Probleme hineinfühlen.
«Eine simple Abfolge von Kameraeinstellungen unterstreicht sowohl Spielbergs effiziente Bildsprache als auch die schmerzhafte Selbstdiagnose, die hier unternommen wird: Sammy mag das Produkt seiner Eltern sein – Techniker und Ästhet in einem –, doch letzten Endes kann er sich nur auf dem Weg der filmischen Projektion in ihre nur allzu menschlichen Probleme hineinfühlen.»
Es ist dieses Ausloten des Grabens zwischen gelebter Wirklichkeit und filmischem Abbild, das «The Fabelmans» zu einem weitaus substanzielleren Werk macht, als es der autobiografische Rahmen vermuten lassen könnte. «Print the legend», lautet ein Schlüsselzitat aus dem Schaffen von Spielbergs grossem Regie-Vorbild John Ford (hier mehr als nur angemessen verkörpert von David Lynch); und «The Fabelmans» setzt sich konsequent mit den logischen Folgen dieses Credos auseinander: Das Publikum mag von den mitreissenden Leinwandlegenden mit ihren überlebensgrossen Heroen prächtig unterhalten werden – doch die Menschen hinter diesen Bildern sind sich ihrer Künstlichkeit nur allzu bewusst.
Wenn Sammy seiner Mutter mit dem idyllischen Zusammenschnitt eines gemeinsamen Campingausflugs eine Freude bereitet, kann er ihre Begeisterung nicht teilen, weil er weiss, welche erschreckenden Bilder er entfernen musste, um bei ihr diesen positiven Effekt zu erzielen. Grossartig auch die Sequenz, in welcher der junge Regisseur in spe dem antisemitischen Highschool-Rüpel eine Existenzkrise beschert, indem er ihn in einem Film im Stile Leni Riefenstahls als «arischen» Übermenschen präsentiert: Die schnöde Realität ist dem Zerrspiegel des Kinos nicht gewachsen, im Guten wie im Schlechten.
«Wenn ‹The Fabelmans› mit seiner einnehmenden Mischung aus humorvoller Kindheitserinnerung, existenziellem Familienporträt und messerscharfer filmischer Selbstreflexion eines veranschaulicht, dann, dass sich Spielberg dieses Quäntchen Eigenlob mehr als nur verdient hat.»
Zugegeben, ein bisschen Selbstverliebtheit schwingt in dieser Darstellung von Sammy als tragischem Film-Midas durchaus mit. Doch wenn «The Fabelmans» mit seiner einnehmenden Mischung aus humorvoller Kindheitserinnerung, existenziellem Familienporträt und messerscharfer filmischer Selbstreflexion eines veranschaulicht, dann, dass sich Spielberg dieses Quäntchen Eigenlob mehr als nur verdient hat.
Über «The Fabelmans» wird auch in Folge 56 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 9.3.2023
Filmfakten: «The Fabelmans» / Regie: Steven Spielberg / Mit: Gabriel LaBelle, Michelle Williams, Paul Dano, Seth Rogen, Mateo Zoryan Francis-DeFord, Julia Butters, Judd Hirsch, Jeannie Berlin, Robin Bartlett, Keeley Karsten, Sophia Kopera, Sam Rechner, Oakes Fegley, Chloe East, David Lynch / USA / 151 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Universal Pictures Switzerland / © Storyteller Distribution Co., LLC. All Rights Reserved.
Steven Spielbergs autobiografischer «The Fabelmans» ist eine ebenso seriöse wie unterhaltsame Auseinandersetzung mit dem Potenzial – und den dunklen Seiten – des Mediums Film.
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