Die Grossmutter der chinesisch-amerikanischen Regisseurin Lulu Wang war todkrank. Ihre weit verstreut lebende Familie entschied sich, der alten Dame ihr bevorstehendes Schicksal zu verheimlichen und organisierte flugs eine Hochzeit, um sich unter einem Vorwand persönlich von ihr verabschieden zu können. Diese Geschichte arbeitet Wang in «The Farewell» gefühl- und humorvoll auf.
Eines der berührendsten Lieder, die je über Auswanderung geschrieben wurden, heisst «Kilkelly, Ireland» und stammt aus der Feder des US-Amerikaners Peter Jones: Basierend auf den Briefen eines Vorfahren aus dem 19. Jahrhundert, die Jones auf dem Dachboden seiner Eltern fand, erzählt es von einem Vater, der seinen in die USA ausgewanderten Sohn 30 Jahre lang schriftlich darüber auf dem Laufenden hält, was in seinem titelgebenden irischen Heimatdorf so alles passiert. Doch auf seine Fragen, wann der Sohn denn endlich nach Hause komme, erhält der Mann niemals eine Antwort.
Gefühle über Distanz
In «The Farewell» gestaltet sich die Kommunikation zwischen Ausgewanderten und Daheimgebliebenen deutlich einfacher als ein Briefwechsel mit wochenlangen Wartezeiten: Die 30-jährige Billi (Awkwafina) wohnt zwar seit ihrer Kindheit in New York, ist dank Handy aber stets mit ihrer geliebten Grossmutter (Zhao Shuzhen) im nordostchinesischen Changchun in Verbindung. Und dennoch erinnern ihre Gefühle über die Distanz zwischen ihr und dem Land und der Kultur ihrer Vorfahren an das, was auch die Protagonisten aus dem vorletzten Jahrhundert in Jones‘ Song umtreibt. In der wohl emotionalsten Szene des Films schüttet Billi ihrer Mutter (Diana Lin) ihr Herz aus: «We moved to the States and everything was different, everyone was gone … I wanted to believe that it was a good thing, but all I saw was the fear in your eyes!»
Regisseurin und Drehbuchautorin Lulu Wang erzählt hier von jenen Immigrant*innen, die zwischen Stuhl und Bank fallen – jene, die Erinnerungen an die alte Heimat haben, ihre prägenden Jahre aber in der neuen verbracht haben. Das wird Billi zum Verhängnis, als ihre Familie beschliesst, ihrer Grossmutter – genannt Nai Nai – ihre eigene Krebsdiagnose zu verheimlichen: Ihre Proteste werden kurzerhand als amerikanische Flause abgekanzelt; ihr Wunsch, während ihres Abschiedsbesuchs bei Nai Nai offen und ehrlich um ihren letzten verbliebenen Bezug zu China trauern zu können, sei, so die Verwandtschaft, nicht die feine chinesische Art.
«Wang inszeniert diesen autobiografisch inspirierten Generationenkonflikt voller Einfühlsamkeit für alle Beteiligten.»
Wang inszeniert diesen autobiografisch inspirierten Generationenkonflikt voller Einfühlsamkeit für alle Beteiligten: So wird nicht nur Billis Entsetzen über die Situation und die Erkenntnis, wie wenig sie überhaupt über ihre Oma weiss, anrührend empathisch ausgeleuchtet; auch das kollektivistische Traditionsbewusstsein von Mutter, Vater (Tzi Ma), Onkeln und Tanten wird in einen nachvollziehbaren Kontext gestellt – nicht Nai Nai soll die Bürde der Krankheit tragen, sondern ihre Familie.
«‹The Farewell› ist eine lupenreine, ergreifend menschliche Tragikomödie, wie man sie nur selten zu Gesicht bekommt.»
Trotz aller Tragik zeigt Wang aber auch ein feines Gespür für das absurd-komische Potenzial von Billis Aussenseiterstatus in Changchun und schlägt einiges an komödiantischem Kapital aus ihrer Prämisse, auch dank der hervorragend nuancierten Leistung von Rapperin und Komikerin Awkwafina, die hier in ihrer ersten dramatischen Rolle zu sehen ist und gerade im Zusammenspiel mit der schalkhaften Zhao Shuzhen zu Höchstform aufläuft. Die Mischung könnte kaum besser funktionieren: «The Farewell» ist eine lupenreine, ergreifend menschliche Tragikomödie, wie man sie nur selten zu Gesicht bekommt.
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Kinostart Deutschschweiz: 26.12.2019
Filmfakten: «The Farewell» / Regie: Lulu Wang / Mit: Awkwafina, Zhao Shuzhen, Tzi Ma, Diana Lin, Lu Hong, Jiang Yongbo, Chen Han, Aoi Mizuhara / USA / 98 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Ascot Elite
«The Farewell» ist ein tief berührender – und zugleich unglaublich witziger – Film über das Auswandern und die Crux mit dem Heimkehren.
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