Florian Zeller hat mit «The Father» sein eigenes Theaterstück über einen an Demenz erkrankten Vater und dessen Tochter verfilmt. Das Spezielle daran: Die Geschichte wird aus der Perspektive des Vaters erzählt. Kein Wunder, gewann er für «The Father» im April den Oscar für das beste adaptierte Drehbuch. Am Zurich Film Festival sprach Zeller mit uns über die Ideen hinter dem Film, Anthony Hopkins‘ Schauspieltechnik und die Horrorfilm-Elemente von «The Father».
«The Father» handelt vom 80-jährigen Anthony (Anthony Hopkins), der an Demenz erkrankt ist. Seine Tochter Anne (Olivia Colman) betreut ihn, stösst aber zunehmend an ihre Grenzen. Als sie externe Hilfe organisieren will, beharrt Anthony stur auf Selbstständigkeit in seiner Wohnung. Aber langsam scheint sich Anthonys Realität zu verschieben: Warum verschwinden plötzlich immer mehr Gegenstände aus seinen Zimmern? Und wer ist der fremde Mann, der immer wieder in seiner Wohnung auftaucht?
Was sich wie ein Thriller anhört, fühlt sich auch beim Zuschauen oft so an. Regisseur Florian Zeller sprengt in «The Father» klassische Genre-Muster, um die Zuschauer*innen direkt in Anthonys Kopf zu versetzten. Bisher vor allem bekannt für seine Bücher (etwa «La Fascination du pire») und Theaterstücke, ist dem 41-jährigen Franzosen mit seinem ersten Film bereits ein ausserordentlich starkes Werk gelungen.
Eine ausführliche Filmbesprechung gibts hier.
Nicoletta Steiger: Wie war es, Ihr eigenes Theaterstück als Film zu adaptieren?
Florian Zeller: Film und Theater sind zwei ganz verschiedene Medien. «The Father» war zuerst ein Theaterstück, das ich vor acht Jahren geschrieben habe. Ich bin also sehr vertraut mit der Geschichte. Aber ich wollte nicht einfach nur ein Theaterstück filmen. Ich strebte etwas wirklich Cinematisches an. Dieser Mann verliert sein Gedächtnis, und ich wollte das Publikum in eine spezielle Position versetzen, als ob es im Kopf des Hauptcharakters wäre. Das war eine Möglichkeit für mich, nicht nur eine Geschichte, sondern ein Erlebnis zu teilen – das Erlebnis, sein Gedächtnis zu verlieren.
Als ich das Skript schrieb, dachte ich darüber nach, wie ich das Layout des Appartements nutzen kann, um den Zuschauern*innen dieses Gefühl der Desorientierung zu vermitteln. Ich entschied mich, in einem Studio zu drehen, weil wir dort Wände entfernen oder die Grösse eines Raumes verändern konnten. Das Appartement verändert sich ständig. Man hat das Gefühl, einen Raum zu erkennen, aber dann verändern sich Schritt für Schritt kleine Details. Manchmal kann man nicht einmal genau sagen, was sich verändert hat. Man hat zur gleichen Zeit das Gefühl, dass man weiss, wo man sich befindet, und dass man keine Ahnung hat, wo man sich befindet. Ich wollte die Zuschauer*innen dazu bringen, dass sie aktiv versuchen, herauszufinden, was genau los ist, wie ein Puzzle. Aber das Puzzle geht nie ganz auf, und das ist frustrierend und aufregend zugleich. Bis zu dem Punkt, an dem man merkt, dass man das Rätseln aufgeben muss und die Geschichte auf einer anderen Ebene, auf einer emotionalen Ebene erleben kann. Dieses Erlebnis wollte ich mit den Zuschauern teilen.
«Ich wollte die Zuschauer*innen dazu bringen, dass sie aktiv versuchen, herauszufinden, was genau los ist, wie ein Puzzle. Aber das Puzzle geht nie ganz auf.»
Wie war es, mit Anthony Hopkins zu arbeiten? Hat er seine eigenen Ideen in die Rolle miteingebracht?
Es war einfach, weil er derart gut ist, und weil ich das Skript spezifisch für ihn geschrieben habe. Deswegen heisst der Hauptcharakter auch Anthony: Ich hatte Anthony Hopkins‘ Gesicht im Kopf, als ich das Drehbuch schrieb. Hopkins ist gleichzeitig sehr intelligent und trotzdem sehr bescheiden. Er lässt Raum für den Regisseur, wenn er das Gefühl hat, dass dieser weiss, was er will. Er hat mir vertraut und ich habe ihm vertraut, deswegen war unsere Zusammenarbeit sehr angenehm. Wir haben über die Figur Anthony diskutiert, aber Hopkins ist ein sehr instinktiver Schauspieler; er diskutiert nicht gerne über jedes Detail. Unter anderem deswegen fällte ich den Entscheid, nicht zu viel Zeit in Proben zu investierten. Wir hatten einen Tag vor dem Dreh jeweils ein kurzes Gespräch über die nächsten Szenen und am Tag des Drehs nur ein paar kurze Probeszenen.
Olivia Colman war ebenfalls ein wichtiger Teil des Prozesses. Sie bevorzugt diese Art des Schauspiels ebenfalls. Sie und Anthony sind sehr verschieden, aber beide sind sehr bescheiden. Wir haben den Film sechs Wochen, nachdem sie den Oscar gewonnen hatte, gedreht, und es gab nie Ego-Probleme auf dem Set. Für mich ist Bescheidenheit ein Zeichen von Grösse, und sie sind beide grossartige Schauspieler*innen.
Der Film hat viele herausfordernde Szenen, besonders die letzte Szene. Wir wussten, wenn wir die nicht richtig hinkriegen, funktioniert der Film nicht. Wir mussten dafür in tiefes, emotionales Territorium abtauchen. Anthony Hopkins musste bereit sein, emotional loszulassen in diesem extrem unbequemen Moment. Ich habe noch nie einen Schauspieler gesehen, der so viel in eine Szene hineingeben hat. Ich war extrem dankbar dafür. Als wir diese Szene gedreht haben, haben alle geweint auf dem Set. Nicht, weil wir traurig waren, sondern weil wir so berührt waren, weil die Szene, weil Anthony Hopkins‘ Schauspiel so wunderschön war.
Der Film fühlt sich stellenweise an wie ein Thriller, manche Szenen könnten gar aus einem Horror-Mystery stammen. Inwiefern sehen Sie den Film mit dem Horrorgenre verbunden?
Ich würde sagen, es ist ein Familiendrama, aber es beginnt wie ein Thriller und es hat Elemente von Horror drin. Ich glaube, das ist es, was man am Anfang dieser Krankheit erlebt. Man findet seine Schlüssel nicht mehr und ist sich hundertprozentig sicher, dass sie eben noch da waren. Das ist wie ein Mystery. Es war spannend, diese Art von Atmosphäre zu erkunden, aber nur als Mittel zum Zweck. Es ging mir nicht darum, die Zuschauer auszutricksen. Ich wollte, dass etwas Reales dahintersteht.
«Es ging mir nicht darum, die Zuschauer auszutricksen. Ich wollte, dass etwas Reales dahintersteht.»
Also keine Schockmomente, nur um den Zuschauer*innen Angst einzujagen, sondern Angst, die aus echten emotionalen Momenten entsteht?
Genau, wir sind ja an Anthonys Seite. Wir erleben, was er erlebt. Das ist angsteinjagend, man geht zusammen mit Anthony durch Emotionen von Panik, Angst und Wut. Ich wollte die Möglichkeit schaffen, alle diese Gefühle zu durchleben, bis zu dem Moment, an dem man endlich versteht, was los ist – und dann ist es nicht mehr angsteinflössend: Es ist mehr, es ist schmerzvoll.
Es ist die pure menschlichen Verbindung zwischen einer Tochter und ihrem Vater. Eine sehr häufig vorkommende Herausforderung: Was macht man mit Leuten, die man liebt, wenn sie ihr Gedächtnis verlieren? Man versucht, sein Bestes zu geben, aber manchmal ist das einfach nicht gut genug, und das ist sehr schmerzvoll. Es ist wie in einem Horrorfilm: Man wird das Elternteil seines eigenen Elternteils.
«Ich glaube, dafür sind Filme da: uns als Teil eines Ganzen zu verstehen. Ich glaube, dafür ist Kunst da: um diese Verbindung zu schaffen.»
Wie haben Sie sich mit dem Thema des Gedächtnisverlusts auseinandergesetzt, um ein so tiefes Verständnis davon zu erlangen?
Pure Intuition. Der Ausgangspunkt war persönlich: Ich wurde von meiner Grossmutter aufgezogen, sie war wie meine Mutter für mich – und sie bekam Alzheimer, als ich 15 Jahre alt war. Aber ich war mir immer bewusst, dass das Thema uns alle betrifft. Es ist nicht nur meine Geschichte. Jeder, der einen Vater oder eine Grossmutter hat, wird sich damit auseinandersetzen müssen. Ich glaube nicht, dass es mein persönliches Erlebnis war, das mir geholfen hat, das Thema zu verstehen. Es ist mehr – am Ende des Films ruft Anthony nach seiner Mutter, und dieses Gefühl kenne ich, obwohl ich nicht dement bin. Am Ende sind wir alle gleich gebaut.
Ich glaube, dafür sind Filme da: uns als Teil eines Ganzen zu verstehen. Ich glaube, dafür ist Kunst da: um diese Verbindung zu schaffen. Es geht nicht nur darum, Leute zum Weinen zu bringen und traurige Geschichten zu erzählen. Das Theaterstück wurde in den verschiedensten Ländern aufgeführt, und ich war überrascht, wie stark die Reaktionen überall waren. Die Leute haben uns nach den Vorstellungen ihre eigenen Geschichten erzählt. Es war wie ein kathartisches Erlebnis für sie. Es geht nicht ums Weinen, es geht ums Teilen.
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«The Father» läuft ab dem 24. Juni 2021 in den Deutschschweizer Kinos.
Trailer- und Filmquelle: © 2021 Ascot Elite Entertainment Group. All Rights Reserved.
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