Verspielter, detailverliebter und rasanter als in «The French Dispatch» hat sich Wes Anderson wohl noch nie gezeigt. Fans seines Stils werden ihn dafür lieben, Kritiker*innen seiner formalen Ticks werden sich in ihrer Skepsis bestätigt fühlen. Was die überkandidelte Anthologie-Komödie aber zu einem von Andersons besten Filmen macht, ist ihre vielschichtige Auseinandersetzung mit Nostalgie.
Ganz am Ende von «The Grand Budapest Hotel» (2014), dem bislang wohl definierenden Meisterwerk von Wes Anderson («The Royal Tenenbaums», «Isle of Dogs»), fällt einer der Schlüsselsätze seiner ganzen Filmografie. Als der altgediente Hoteleigentümer Zero (F. Murray Abraham) gefragt wird, ob seine Loyalität zu seinem aus der Mode gekommenen Jugendstil-Hotel daher rührt, dass er an seiner letzten verbliebenen Verbindung zur verschwundenen Welt seines Mentors, jener des imperialen europäischen Pomps des späten 19. Jahrhunderts, festhalten will, verneint er und fügt nach einem Augenblick des Nachdenkens hinzu: «I think his world had vanished long before he ever entered it.»
Anderson wird gerne vorgeworfen, seine Filme übten sich in realitätsferner Nostalgie, dass ihre affektierte Puppenhaus-Ästhetik und ihre schrullig-schrägen Geschichten auf einen Regisseur schliessen liessen, der nicht akzeptieren will, dass das 21. Jahrhundert schon längst angebrochen ist. Was dieser Moment aber demonstrierte: Anderson ist sich dieser Tendenz in seinem Schaffen bewusst, und er weiss sich auch kritisch damit auseinanderzusetzen.
Es ist sicher kein Zufall, dass der Abspann von «The Grand Budapest Hotel» explizit auf den österreichischen Schriftsteller Stefan Zweig («Schachnovelle») verweist, mit dem Anderson nicht nur die polierte Kunstsprache gemein hat, sondern auch die komplizierte Sehnsucht nach einer unwiederbringlich verflossenen, allermindestens teilweise herbeifantasierten Vergangenheit. Anderson ist eindeutig fasziniert und inspiriert von den transatlantischen Intellektuellenszenen der Nachkriegsjahre, obwohl – oder gerade weil – es diese in dieser Form heute gar nicht mehr geben könnte. Eines von Zweigs wichtigsten Büchern ist «Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers», in welchem er dem Europa vor den Weltkriegen seine Reverenz erweist – und das 1942 posthum erschien, nachdem sich Zweig aus Verzweiflung über die scheinbar aussichtslose Lage auf seinem geliebten Heimatkontinent das Leben genommen hatte.
Sieben Jahre nach «Budapest» scheint Zweig Anderson noch immer nicht losgelassen zu haben. Obschon vordergründig eine Hommage an die nordamerikanische Exil-Intelligenzija von James Baldwin bis Mavis Gallant, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in Europa journalistisch betätigte, ist «The French Dispatch» einmal mehr ein Film über Nostalgie – über die egozentrische Tragik und die kulturelle Bedeutsamkeit, wehmütig einer romantisierten Vergangenheit nachzutrauern.
«Obschon vordergründig eine Hommage an die nordamerikanische Exil-Intelligenzija von James Baldwin bis Mavis Gallant, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in Europa journalistisch betätigte, ist ‹The French Dispatch› einmal mehr ein Film über Nostalgie – über die egozentrische Tragik und die kulturelle Bedeutsamkeit, wehmütig einer romantisierten Vergangenheit nachzutrauern.»
Aufgehängt ist das an der letzten Ausgabe des fiktiven «French Dispatch», welcher von der unabhängigen französischen Aussenstelle der «Liberty, Kansas Evening Sun» publiziert wird – ein unverhohlen vergeistigtes Exilant*innen-Blatt, in dem Kunst, Kultur und Haute Cuisine besonders gross geschrieben werden. Unter dem strengen Rotstift von Chefredaktor Arthur Howitzer Jr. (Bill Murray), einer fiktionalisierten Version des «New Yorker»-Mitbegründers Harold Ross, berichten die literarisch-journalistischen Schwergewichte Herbsaint Sazerac (Owen Wilson), J. K. L. Berensen (Tilda Swinton), Lucinda Krementz (Frances McDormand) und Roebuck Wright (Jeffrey Wright) vom Leben im wunderbar kleinstädtischen Pseudo-Paris Ennui-sur-Blasé.
Sazerac lädt zur historischen Stadtrundfahrt; Berensen erzählt von einem künstlerisch hochbegabten Mörder (Benicio del Toro) und dessen Muse (Léa Seydoux); Krementz schreibt von ihrer Verwicklung in die vom jungen Zeffirelli (Timothée Chalamet) angeführte Studentenrebellion; Wright haut kurz vor Redaktionsschluss noch seinen Bericht über ein denkwürdiges Polizei-Diner in die Tasten – einschliesslich Entführung, Schiesserei und Autoverfolgungsjagd.
Anderson inszeniert diese Anekdotensammlung in seinem gewohnt überkandidelten, visuell überwältigenden Stil: symmetrische Kompositionen, liebevoll handgemachte Kulissen, sparsam eingesetzte Kameraschwenks, dafür umso mehr Bewegung und Informationsgehalt innerhalb der einzelnen Tableaux, die hier in Sachen Aufwand und Detailtreue den Grossteil seines bisherigen Schaffens in den Schatten stellen.
Die Szenen von «The French Dispatch» sind Dioramen einer stilisierten, minutiös konstruierten Fantasiewelt, die vollgestopft sind mit kleinen visuellen Gags, einfallsreich platzierten Untertiteln, komplexen Grafiken, klassischem Slapstick, experimentell kommunizierten Zeitsprüngen und jeder Menge Hintergrundgeschehen. In Kombination mit dem kalkulierten Wechsel zwischen Farbe und Schwarzweiss sowie den wort- und geistreichen, in halsbrecherischem Tempo vorgetragenen Dialogen, die, in bester «New Yorker»-Manier, keine Gelegenheit auslassen, einem Satz ein schlau klingendes Adjektiv zu verpassen, entsteht so eine oftmals herrlich überfordernde, zu keinem Zeitpunkt langweilige Liebeserklärung ans Abenteuer Print-Journalismus.
«Die Szenen von ‹The French Dispatch› sind Dioramen einer stilisierten, minutiös konstruierten Fantasiewelt, die vollgestopft sind mit kleinen visuellen Gags, einfallsreich platzierten Untertiteln, komplexen Grafiken, klassischem Slapstick, experimentell kommunizierten Zeitsprüngen und jeder Menge Hintergrundgeschehen.»
Doch wie schon in «The Grand Budapest Hotel» ist sich Anderson auch in «The French Dispatch» der Grenzen der Nostalgie durchaus bewusst. Was man hier vom Emigrant*innen-Dasein sieht, ist sogar innerhalb der filmischen Realität eine romantische Projektion: Berensen und Wright erzählen ihre jeweilige Geschichte in zusätzlichen Rahmenhandlungen, Jahre nach ihrem Engagement für Howitzer; derweil Krementz‘ Artikel über ihre Liebelei mit Zeffirelli und dem revolutionären Geist vor persönlicher Befangenheit und subjektiver Schwärmerei nur so strotzt.
Wie bei Zweig gilt die Wehmut, die Melancholie dieses dennoch urkomischen Films etwas unerträglich Nebulösem, mehr einer abstrakten Idee als einem konkreten historischen Fakt. Der verliebte Mörder, der sich gegen die finanziellen Avancen des reichen Kunsthändlers (Adrien Brody) wehrt; der rebellische Student, der vor lauter Politik die eigene Jugend vergisst; der Lebemann Wright, der die praktische Erfahrung des «Polizei-Kochens» im Feld über die theoretische Annäherung im schnieken Esszimmer stellt: «The French Dispatch» bricht eine Lanze für unzeitgemässen Idealismus, für brotlose Ziellosigkeit, für das zunehmend aus der Mode kommende Credo «L’art pour l’art».
Das ist der springende Punkt: Nostalgie ist nicht, oder nicht nur, rückwärtsgewandte Realitätsverweigerung, sondern auch ein Ansatz, um über die Zukunft nachzudenken. Wie Zweig in «Die Welt von Gestern» schreibt: «Nur wer sorglos in die Zukunft blicken konnte, genoss mit gutem Gefühl die Gegenwart.»
Einer der berührendsten Momente des Films ist die Erinnerung eines Mitstreiters von Zeffirelli an einen schwermütigen Kameraden im Militärdienst, visualisiert in Form des Theaterstücks, in welchem dieser dereinst verewigt werden soll. Ins andächtige Publikum blickend, verkündet der junge Mann: «I can no longer envision myself as a grown-up in my parents‘ world» – ein Satz, der sich in Zeiten von Pandemie, Klimawandel und globaler politischer und wirtschaftlicher Umwälzungen nicht einfach so dahinsagen lässt. Die Welt von gestern ist verschwunden. Nun gilt es, zu bewahren, was des Bewahrens würdig ist, und ein neues Morgen zu denken.
Über «The French Dispatch» wird auch in Folge 35 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
–––
Kinostart Deutschschweiz: 21.10.2021 / Streambar auf Disney+ und AppleTV
Filmfakten: «The French Dispatch» / Regie: Wes Anderson / Mit: Bill Murray, Owen Wilson, Benicio del Toro, Tilda Swinton, Adrien Brody, Léa Seydoux, Frances McDormand, Timothée Chalamet, Lyna Khoudri, Jeffrey Wright, Mathieu Amalric, Liev Schreiber, Edward Norton, Stephen Park, Willem Dafoe, Saoirse Ronan, Anjelica Huston / USA / 103 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Disney / © 2021 Searchlight Pictures
«The French Dispatch» ist ein Fest für Fans von Wes Anderson. Urkomisch und formal brillant, aber auch voller leiser Melancholie über eine verschwundene Welt, die es vielleicht gar nie gab.
No Comments