David Lowery, der stilistisch vielseitige US-Regisseur hinter Filmen wie «A Ghost Story» und «The Old Man & the Gun», legt mit coronabedingter Verspätung sein bislang ambitioniertestes Werk vor: «The Green Knight», die Adaption eines mittelalterlichen Ritterromans, ist ein bildgewaltiges Fantasy-Epos, das seinem Publikum einiges zutraut.
Oft ist in Gesprächen über Film vom sogenannten «Erzählkino» die Rede – der geradezu mystisch verklärten Hollywoodformel, die Zuschauer*innen in aller Welt schon seit bald 100 Jahren in ihren Bann zieht. Anders als Arthouse-, Kunst- und Experimentalfilme, seine manchmal eher sperrig daherkommenden Gegenstücke, zeichnet sich das Erzählkino in erster Linie durch Zugänglichkeit und Unterhaltungswert aus: Seine Spezialität sind kompetent und effizient inszenierte Geschichten, die sich von A nach B bewegen, und die bevölkert sind von nachvollziehbaren Figuren mit klar ersichtlichen Motiven, die sich irgendwo auf dem Gut-Böse-Spektrum verorten lassen.
«Lowerys Filmografie – ein kunterbuntes Tingeln zwischen und Vermischen von ‹Kunst» und ‹Kommerz›.»
Dass es ausgerechnet David Lowery sein würde, der einen diese Definition von «Erzählkino» noch einmal überdenken lässt, war an sich absehbar. Mehr als die meisten Regisseur*innen seiner Generation entzieht sich der 40-jährige Texaner bis heute einer eindeutigen Kategorisierung: Eiferte er in seinem Durchbruch, dem Sundance-Hit «Ain’t Them Bodies Saints» (2013), noch dem Frühwerk Terrence Malicks nach, drehte er drei Jahre später für Disney das Live-Action-Remake «Pete’s Dragon», den vielleicht einzigen lohnenswerten Eintrag in jenes berüchtigte Subgenre. Darauf folgten wiederum der langsame Lo-Fi-Antihorrorfilm «A Ghost Story» (2017) sowie der leichtfüssige Gangsterfilm «The Old Man & the Gun» (2018), mit dem sich Superstar Robert Redford vom Hauptdarsteller-Dasein verabschiedete. Lowerys Filmografie – ein kunterbuntes Tingeln zwischen und Vermischen von «Kunst» und «Kommerz».
Und jetzt also «The Green Knight», eine, so der wunderbar affektiert vorgetragene Vorspann, «filmed adaptation» des höfischen Romans «Sir Gawain and the Green Knight», der im England des 14. Jahrhunderts von unbekannter Hand verfasst wurde und in mittelenglischer Versform von den Abenteuern eines Ritters an König Artus‘ Tafelrunde erzählt. Was Lowery als Regisseur, Autor und Schnittmeister aus diesem ungewöhnlichen Quellenmaterial macht, ist tatsächlich grosses Erzählkino, und grosses Kino über das Geschichtenerzählen – aber nicht im wohlbekannten Hollywood-Sinne: Hier wird gemäss mittelalterlicher Logik, frühchristlicher Weltanschauung und heidnischer Symbolik Rittergarn gesponnen.
«Was Lowery als Regisseur, Autor und Schnittmeister aus diesem ungewöhnlichen Quellenmaterial macht, ist tatsächlich grosses Erzählkino, und grosses Kino über das Geschichtenerzählen – aber nicht im wohlbekannten Hollywood-Sinne: Hier wird gemäss mittelalterlicher Logik, frühchristlicher Weltanschauung und heidnischer Symbolik Rittergarn gesponnen.»
Die Mär nimmt ihren Anfang am Weihnachtstag, als sich die Ritter von Camelot zum heiteren Festmahl versammeln, unter ihnen der junge Gawain (Dev Patel), der Neffe des Königs (Sean Harris). Doch Gawain führt kein ritterliches Leben: Während andere Recken der Tafelrunde noble Abenteuer bestreiten, schlägt er sich lieber die Nächte im Bordell um die Ohren. Entsprechend muss er denn auch seinen Onkel enttäuschen, als dieser ihn beim Bankett darum bittet, ihn und seine Königin (Kate Dickie) mit einem Ritterschwank zu erheitern.
Für weihnächtliche Unterhaltung sorgt schliesslich ein anderer. Der riesige, baumähnliche Grüne Ritter (Ralph Ineson) betritt den Festsaal und fordert die Anwesenden zu einem Spiel heraus: Ein Ritter solle vortreten und es wagen, ihn im Kampf zu verwunden – unter der Bedingung, dass derjenige, der die Herausforderung meistert, ein Jahr später einen gleichwertigen Hieb von der Axt des Grünen Ritters entgegennehme. Gawain, der sich unbedingt beweisen will, tritt vor und enthauptet den unheimlichen Besucher – welcher daraufhin seinen abgeschlagenen Kopf aufhebt, Gawain an seine Verpflichtung erinnert und sich zu Pferde davonmacht.
Lowery macht in diesem ersten Akt kurzen Prozess mit seinem Publikum: Die Welt der Artus-Sagen ist kurios, unvollständig überliefert und voll mit Magie, tausendjährigen Wertvorstellungen und unausgesprochenen Intrigen zwischen etablierten Figuren – und «The Green Knight» ist bedacht darauf, diese Eigenarten voll auszukosten. Weder König Artus noch Königin Guinevere noch die Zauberin Morgan le Fay (Sarita Choudhury) werden beim Namen genannt; und dennoch scheint sich in ihren Blickwechseln mit Gawain mehr zu verbergen, als ihre spärlichen Dialoge preisgeben.
«Lowerys Camelot – scharfkantig, karg, unheimlich, expressiv beleuchtet – ist ein anregend unergründliches, geografisch und chronologisch diffuses Fantasiegebilde, irgendwo zwischen ‹realitätsnahem› mittelalterlichem Jammertal und den Bilderbuch-Ritterburgen, die über die Jahrhunderte schon so manche Kinderfantasie nachhaltig beeinflusst haben.»
Lowerys Camelot wiederum – scharfkantig, karg, unheimlich, expressiv beleuchtet – ist ein anregend unergründliches, geografisch und chronologisch diffuses Fantasiegebilde, irgendwo zwischen den «realitätsnahen» mittelalterlichen Jammertälern, die man aus Ridley Scotts Kreuzzug-Epos «Kingdom of Heaven» (2005) oder Justin Kurzels unterbewerteter Shakespeare-Adaption «Macbeth» (2015) kennt, und den Bilderbuch-Ritterburgen, die über die Jahrhunderte schon so manche Kinderfantasie nachhaltig beeinflusst haben. Sogar der Schnitt scheint sich bisweilen den bewährten Kinokonventionen zu widersetzen: Wiederholt kommt es zu scheinbar grundlosen Überblendungen, als versuchte sich der Film an einer visuellen Entsprechung zu den Leerstellen in mittelalterlichen Schriftfragmenten.
Der Rest von «The Green Knight» eskaliert diesen Hang zum Befremdlichen und Archaischen mit grandioser Selbstverständlichkeit. Gawain macht sich auf die Reise, um sein Versprechen gegenüber dem Grünen Ritter einzulösen, und wird dabei, in bester Märchen-Manier, mit einer Reihe von Situationen konfrontiert, in denen er beweisen muss, dass er die ritterlichen Tugenden verinnerlicht hat: hier ein Wegelagerer (Barry Keoghan), dort ein magischer Fuchs, hier eine kopflose Heilige (Erin Kellyman), dort ein jovialer Adliger (Joel Edgerton) und seine verführerische Ehefrau (Alicia Vikander).
Keine Episode hat viel mit der nächsten zu tun; was sie verbindet, sind, neben Gawains spiritueller Weiterentwicklung, die eindrücklichen Bilderwelten von Lowery und Kameramann Andrew Droz Palermo. Dev Patel, der nach «The Personal History of David Copperfield» (2019) schon wieder als geschichtenerzählender Held aus der angelsächsischen Literatur brilliert, reitet, rennt und kriecht hier durch schroffe, nebelverhangene, gespenstisch leere Landschaften voller Ruinen und Skelette. Gewisse Sequenzen stellen jegliches Raumverständnis buchstäblich auf den Kopf; andere werden in alles durchtränkende Primärfarben getaucht; wieder andere verlieren sich in kosmisch-abstrakten Kompositionen. Die Schlussviertelstunde ist ein einziger langer, mit entrückt schwebender Kamera gefilmter Totentanz auf der Schwelle zwischen Realität und Fantasie.
Artus‘ England ist, wie es scheint, dem Untergang geweiht: Überall wuchert das unaufhaltsame Grün – die Farbe des natürlichen Zerfalls, der Verwesung, der Allmacht der Natur. Die Zeit schreitet gleichmütig apokalyptisch voran; Helden sterben, Monumente bröckeln, Erinnerungen weichen Legendem, Legenden dem Vergessen – selbst Excalibur ist in Lowerys Vision letzten Endes einfach nur ein Schwert. Die Glorie des Ritterstandes, dem Gawain aus blindem Pflichtgefühl hinterherrennt, ist dem Tode nah.
«Mit diesen grossen ästhetischen und erzählerischen Gesten, deren selbstverständliche Seltsamkeit wohl auch so manches Publikumsmitglied irritieren wird, demonstriert ‹The Green Knight›, dass er die grundlegende Faszination des Geschichtenerzählens weitaus besser versteht als die meisten aktuellen Aushängeschilder des klassischen Hollywood-Erzählkinos.»
Mit diesen grossen ästhetischen und erzählerischen Gesten, deren selbstverständliche Seltsamkeit wohl auch so manches Publikumsmitglied irritieren wird, demonstriert «The Green Knight», dass er die grundlegende Faszination des Geschichtenerzählens weitaus besser versteht als die meisten aktuellen Aushängeschilder des klassischen Hollywood-Erzählkinos. Lowerys Bilderchronik von Gawains Wanderschaft durch ein mystisch überhöhtes englisches Mittelalter folgt keiner klassischen Dramaturgie und wirft mit ihren regelmässigen narrativen Abschweifungen deutlich mehr Fragen auf als sie beantwortet. Doch damit gelingt es dem Film auch, den bis heute bestehenden Reiz des legendenumrankten Quellenmaterials freizusetzen, die Fantasie zu beflügeln, und zu fesseln, ja zu verzaubern, wie all die Lagerfeuer- und Gutenachtgeschichten, von denen man als Kind nie genug hören konnte.
Über «The Green Knight» wird auch in Folge 30 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 29.7.2021
Filmfakten: «The Green Knight» / Regie: David Lowery / Mit: Dev Patel, Alicia Vikander, Sean Harris, Ralph Ineson, Joel Edgerton, Barry Keoghan, Kate Dickie, Sarita Choudhury, Erin Kellyman / USA / 125 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © 2021 Ascot Elite Entertainment Group. All Rights Reserved.
«The Green Knight» ist stolz auf seine kompromisslose Seltsamkeit – und genau das macht dieses düstere, bildgewaltige Abenteuer voller archaischer Mystik zu so einem fesselnden Kinoerlebnis.
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