Basierend auf einem einzigen Kapitel aus Bram Stokers «Dracula», erzählt «The Last Voyage of the Demeter» von André Øvredal eine atmosphärische Horrorgeschichte auf hoher See.
Vor 101 Jahren verbreitete Friedrich Wilhelm Murnau mit «Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens» Angst und Schrecken auf den Leinwänden. Auch wenn das darin vorkommende Ungetüm aus urheberrechtlichen Gründen nicht Dracula, sondern Graf Orlok hiess, war das die erste Verfilmung des gruseligen Grafen, der 1897 von Bram Stoker ersonnen worden war. Und es sollten noch unzählige weitere folgen.
Über ein Jahrhundert später ist Dracula die meistverfilmte fiktive Figur – und das wird wohl so bleiben, denn 2023 erscheinen sowohl das Slapstick-Gemetzel «Renfield» als auch die klaustrophobische Schauergeschichte «The Last Voyage of the Demeter». Dass im selben Jahr zwei Dracula-Filme im Kino Platz haben, zeigt, wie vielfältig die Romanfigur noch immer umgesetzt werden kann und dass Filmemacher*innen noch immer Spass am Erkunden der Figur haben.
«Dass im selben Jahr zwei Dracula-Filme im Kino Platz haben, zeigt, wie vielfältig die Romanfigur noch immer umgesetzt werden kann und dass Filmemacher*innen noch immer Spass am Erkunden der Figur haben.»
So auch der der Norweger André Øvredal («Scary Stories to Tell in the Dark»): Das schon vor 20 Jahren angedachte Drehbuch zu «The Last Voyage of the Demeter» basiert auf einem gerade einmal 20 Seiten umfassenden Kapitel aus Bram Stokers Roman «Dracula», das von der Überfahrt des Vampirs nach England erzählt und in den meisten Verfilmungen, wenn überhaupt, nur kurz gezeigt wird. Das klingt nach sehr wenig Fleisch für einen abendfüllenden Film. Andererseits wurde Peter Jackson auch nicht davon abgehalten, die knappen 300 Seiten von «The Hobbit» unnötigerweise zu einem achtstündigen, dreiteiligen Fantasymarathon aufzublähen. Zum Glück weiss Øvredal, wann Schluss ist, und so ist seine stimmungsvolle Hochsee-Horrormär mit zwei Stunden auch nur eine Spur zu lang geraten.
Viel erzählt wird in der Laufzeit nicht. Das Handelsschiff Demeter soll unter der Führung von Captain Elliot (Liam Cunningham) 50 Holzkisten von Rumänien nach England transportieren. Mit an Bord sind der Arzt Clemens (Corey Hawkins), der erste Maat Wojchek (David Dastmalchian), der Enkel des Kapitäns, Toby (Woody Norman), sowie eine Handvoll Matrosen. Die angsterfüllten Auftraggeber zahlen einen saftigen Bonus dafür, dass sie nichts mehr mit den Kisten zu tun haben und die Fracht in einer bestimmten Zeit London erreicht. Ihre Angst ist berechtigt, denn die Crew findet schon bald heraus, dass sie nichts weiter sind als die Wegzehrung Nosferatus auf der langen Schiffsreise.
Wie am Ende alles ausgeht, wird bereits in der ersten Szene klar, die zeigt, was auch in Stokers Roman beschrieben wird: Die Demeter läuft in Whitby inmitten eines Sturms auf; niemand an Bord scheint überlebt zu haben. Also stellt sich die Frage, wie es zu diesem Unglück kam. In dieser Hinsicht ähnelt der Film dem «Star Wars»-Zwischenspiel «Rogue One» (2016), wo das tragische Ende ebenso gewiss ist und der Weg dahin erzählt wird. Leider sind die Figuren auf der Demeter nicht ganz so spannend und ausgereift wie jene im Weltraumabenteuer von Gareth Edwards – für einen soliden Horrorplot reicht es aber allemal und alle bekommen gerade genug Hintergrundgeschichte angedichtet, damit ihr Schicksal dem Publikum nicht ganz egal ist und man durchaus mitfiebern kann.
«Wie am Ende alles ausgeht, wird bereits in der ersten Szene klar, die zeigt, was auch in Stokers Roman beschrieben wird: Die Demeter läuft in Whitby inmitten eines Sturms auf; niemand an Bord scheint überlebt zu haben.»
Corey Hawkins («In the Heights», «The Tragedy of Macbeth») führt das Publikum als frisch angeheuerter Schiffsarzt Clemens ins Geschehen ein und sorgt für den Blick von aussen auf die Mannschaft des todgeweihten Schiffs. Er versucht, das unheimliche Treiben auf See wissenschaftlich zu erklären und reibt sich dabei natürlich mit der hochgradig abergläubischen Crew – ein maritimer Ichabod Crane («Sleepy Hollow») sozusagen.
Liam Cunningham wiederum wurde bereits in «Game of Thrones» als guter Davos Seaworth seetauglich gemacht und gibt einen hervorragend grummeligen, vom Leben auf See gegerbten, aber doch empathischen Seebären. Das gern gesehene Charaktergesicht David Dastmalchian («Dune», «Oppenheimer») gefällt als hitziger Sparringspartner, der den Laden am Laufen hält, während Aisling Franciosi («God’s Creatures») als einzige Frau auf der Besetzungsliste glücklicherweise nicht nur Beiwerk ist, sondern als blinde Passagierin Anna im letzten Viertel den überforderten Männern ordentlich zeigt, wo es langgeht. Das Monsterdesign von Dracula selbst (Javier Botet) ist furchterregend gut gelungen und erinnert in seiner Erscheinung stark an das von Max Schreck gespielte insektische Vorbild aus Murnaus «Nosferatu».
«Die tatsächliche Hauptdarstellerin ist die titelgebende Demeter selbst.»
Aber die tatsächliche Hauptdarstellerin ist die titelgebende Demeter selbst. Auch wenn sich die Welt Ende des 19. Jahrhunderts schon weitergedreht hat und das Meer von Dampfschiffen befahren wird, besteht der stolze und altgediente Kapitän darauf, mit seinem Segelschiff Demeter den lukrativen Auftrag zu bewältigen. So wird sie von Øvredal auch herrlich prominent und beeindruckend in Szene gesetzt. Sie knarzt, ächzt, glänzt im Licht des Vollmonds und kämpft sich tapfer durch jeden noch so nassen Sturm – und dient durch ihre Bauart auch als (Not-)Kommunikationsmittel, da Klopfzeichen fast überall auf dem Schiff gehört werden können. Natürlich wird das auch für den einen oder anderen Spannungsmoment verwendet.
Die Atmosphäre ist überhaupt die grosse Stärke des Films. Das erste Drittel ist mit an klassische Universal-Monsterfilme erinnernde Old-School-Grusel-Vibes durchzogen. Hier bleiben eine Handvoll Jump-Scares nicht aus, die nicht unbedingt nötig gewesen wären, jedoch nur spärlich und meist gekonnt und originell eingesetzt werden. Im Mittelteil dreht der Wind, und die Reise wird zum Survival-Thriller Marke «Alien» (1979) mit wenigen, dafür umso saftigeren Gore-Momenten, bevor das Ganze als rasanter Monster-Actionkracher endet.
«Das Horror-Rad wird hier nicht neu erfunden; dafür sind die Passagen kompetent und abwechslungsreich inszeniert.»
Das Horror-Rad wird hier nicht neu erfunden; dafür sind die Passagen kompetent und abwechslungsreich inszeniert. Und auch die typischen Vampir-Topoi werden nicht über Gebühr ausgereizt. Im Gegenteil: Der Einsatz von Sonnenlicht, das Vampire bekanntermassen brutzeln lässt, wird sogar recht überraschend – und qualvoll – eingefangen. Der Soundtrack von Bear McCreary («The Walking Dead») fügt sich dem Grusel-Konzept und untermalt die Stimmung jederzeit passend. Kurzum: ein grundsolides Genrestück – was will man mehr?
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Kinostart Deutschschweiz: 17.8.2023
Filmfakten: «The Last Voyage of the Demeter» / Regie: André Øvredal / Mit: Corey Hawkins, Aisling Franciosi, Liam Cunningham, David Dastmalchian, Chris Walley, Woody Norman, Javier Botet / USA / 119 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © 2023 Universal Studios. All Rights Reserved.
«The Last Voyage of the Demeter» mag eine Spur zu lang sein, doch André Øvredal ist dennoch ein stimmungsvoller und unterhaltsamer Eintrag in den umfangreichen Dracula-Kino-Kanon gelungen.
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