Wenn Schauspieler*innen irgendwann ins Regiefach wechseln, sorgt dies oft erst einmal für Skepsis. In gewissen Fällen zu Recht, sind Schauspiel und Regie doch zwei grundlegend verschiedene Paar Schuhe. Maggie Gyllenhaal umgeht mit ihrem Langspielfilmdebüt «The Lost Daughter» allerdings zahlreiche Gefahren und schafft mit der Verfilmung des Bestsellers von Elena Ferrante einen erstaunlich reifen Erstling.
Leda Caruso (Olivia Colman) ist Professorin für vergleichende Literatur, offensichtlich alleinstehend, und nutzt ihren Sommer, um Arbeit und Entspannung zu verbinden. So kommt sie gegen Abend auf der fiktiven griechischen Insel Kyopeli an und vergräbt sich fortan am Strand in ihren Büchern.
Im Mikrokosmos der Insel bewegen sich allerdings noch zahlreiche andere Leute, die drohen, Ledas Isolation zu stören. Da sind zum einen der Verwalter ihrer Ferienwohnung, gespielt von einem vitalen Ed Harris, und zum andern der junge Ire Will («Normal People»-Star Paul Mescal), der auf der Insel seinem Sommerjob nachgeht. Sie sind – wenn auch ein bisschen überbemüht – freundliche Zeitgenossen. Trotzdem möchte Leda am liebsten für sich sein; doch mit der Ankunft eines amerikanisch-griechischen Clans aus Queens ist es vorbei mit der Ruhe. Sie sorgen für Lärm am Strand, sind überall; vor allem aber wühlen sie in Leda Vergangenes und Verdrängtes auf.

Dakota Johnson als Mutter Nina / © Netflix
«Es scheint ein unsichtbares Band zwischen ihr und Nina gesponnen worden zu sein – doch ob dies gut oder schlecht ist, wird sich erst noch herausstellen müssen.»
Die vordergründige Freundlichkeit der Neubekanntschaften ist unterlegt mit einer unterschwelligen Aggression. Und doch lässt sich Leda widerwillig von den Frauen in die Gruppe hineinziehen. Eine besondere Verbindung scheint sie dabei zur jungen Mutter Nina (Dakota Johnson) zu haben. Als deren Tochter eines Tages verloren geht, ist es ausgerechnet Leda, die das kleine Mädchen findet und heil zu ihrer Familie zurückbringt. Es scheint ein unsichtbares Band zwischen ihr und Nina gesponnen worden zu sein – doch ob dies gut oder schlecht ist, wird sich erst noch herausstellen müssen.
Der beunruhigende Grundton der erzählten Gegenwart, der sich immer wieder bemerkbar macht, wird in «The Lost Daughter» unterbrochen durch erklärende Flashbacks. Diese sind zwar ebenfalls stimmig inszeniert und gespielt, schaden aber teilweise der Dynamik des Films und machen ihn über gewisse Strecken etwas schleppend. Die Geschichte brilliert dort, wo sie enigmatisch bleibt – in den Subjektiven von Leda, ihren unheilvollen Vorahnungen. Daraus entsteht auch eine Reflexion übers Mutter- und Frausein und – eng damit verbunden – über menschliche Unzulänglichkeiten.

Olivia Colman als Leda Caruso / CR: COURTESY OF NETFLIX
«Die Geschichte brilliert dort, wo sie enigmatisch bleibt – in den Subjektiven von Leda, ihren unheilvollen Vorahnungen.»
Die Kameraarbeit von Hélène Louvart («Lazzaro felice», «Never Rarely Sometimes Always») schafft einen intimen weiblichen Blick, sowohl auf die gegenwärtigen Geschehnisse als auch auf Ledas Vergangenheit. Besonders in den Rückblenden schaffen sie und Regisseurin Maggie Gyllenhaal so Bilder, welche die Nähe der jungen Leda (Jessie Buckley) zu ihren Töchtern zu Enge werden lassen. Selten ist es einem Film in den letzten Jahren gelungen, sich so sehr einer weiblichen Perspektive anzunehmen, ohne in den Kitsch abzurutschen. Regie und Kamera ergänzen sich hier aufs Beste, indem sie das Spannungsfeld zwischen Introspektion und Suspense öffnen und beidem genug Raum lassen.
So ist «The Lost Daughter» im Kern ein psychologisches Drama, das sich über gewisse Strecken wie ein Thriller anfühlt. Dass die Adaption des Romans von Elena Ferrante für einige hölzerne Momente in der Dramaturgie sorgt, stört dabei nur selten. Zu sehr wird man in Ledas Leben hineingezogen, was nicht zuletzt auch der grossartigen Darstellung von Olivia Colman und dem gesamten Cast liegt.
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Filmfakten: «The Lost Daughter» / Regie: Maggie Gyllenhaal / Mit: Olivia Colman, Jessie Buckley, Dakota Johnson, Ed Harris, Peter Sarsgaard, Dagmara Domińczyk, Paul Mescal / USA, Griechenland / 121 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Netflix
«The Lost Daughter» zeigt eine spannungsvolle Introspektion einer Professorin und Mutter, deren Sog man sich nur schwer entziehen kann. Beeindruckend in Darstellung und Umsetzung.
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