Robert Eggers, der Regisseur der historischen Horrorfilme «The Witch» und «The Lighthouse», hat erstmals in seiner Karriere ein grosses Budget zugestanden bekommen – und er kostet diese Chance voll aus: Die Wikingersaga «The Northman» ist wuchtiges historisches Kino, das gerne Schule machen dürfte.
Nicht viele Filmemacher*innen haben ein so feines Gespür für die Inszenierung vergangener Welten wie Robert Eggers. Das mag einerseits an der Detailverliebtheit des gelernten Szenenbildners liegen, zeichnen sich seine Werke doch nicht zuletzt durch ihren Hang zu historisch möglichst akkuraten Schauwerten aus.
Doch das ist nur die halbe Miete: Es sind nicht nur die frühneuenglischen Dialoge und das authentische Kostümdesign, die «The Witch» (2015) zu einer atmosphärischen Gruselgeschichte über die finsteren Abgründe der puritanischen Besiedelung New Englands machen. Dass Willem Dafoe in «The Lighthouse» (2019) im Matrosendialekt des 19. Jahrhunderts Seemannsgarn spinnt, ist nicht der alleinige Grund, dass es dem Film gelingt, grundlegende Fragen über die menschliche Psyche aufzuwerfen. Nein, was Eggers‘ Bearbeitung historischer Milieus in einer ganz eigenen Liga spielen lässt, ist sein Verständnis für archaische, aus heutiger Sicht vielleicht sogar widersinnige Denkweisen – und seine moderne Auseinandersetzung damit.
Der Wahnsinn, dem die auf einer Insel gestrandeten Protagonisten von «The Lighthouse» verfallen, speist sich aus zeitgenössischen Vorstellungen von Autorität, Männlichkeit und Aberglauben, die Eggers – auf seine eigene dreckig-humorvolle Art – psychoanalytisch wendet. Der Horror von «The Witch» fusst auf dem Glauben der puritanischen Siedler an schwarze Magie und die Gefahr des «ungezähmten» amerikanischen Kontinents; doch Eggers‘ Erzählung macht zugleich unmissverständlich deutlich, dass diese grauenhaften Ideen letztlich Projektionen einer streng religiösen, toxisch-patriarchalen Gesellschaft sind.
«‹The Northman› ist starbesetzt, actionreich, eine ästhetische Augenweide und bis in die letzte Kleiderspange auf Authentizität getrimmt.»
Umso aufregender ist es, diesem Regisseur nun dabei zuzuschauen, wie er diese Herangehensweise an längst vergangene Welten und Weltbilder in seinen ersten Big-Budget-Film integriert. «The Witch» kostete vier Millionen Dollar, «The Lighthouse» elf. Die Produktion der Wikingersaga «The Northman», in der Eggers zusammen mit dem isländischen Autor Sjón die skandinavische Legende, die einst William Shakespeare zu «Hamlet» inspirierte, neu auslegt, verschlang zwischen 70 und 90 Millionen Dollar.
Und das macht sich auch bemerkbar: «The Northman» ist starbesetzt, actionreich, eine ästhetische Augenweide und bis in die letzte Kleiderspange auf Authentizität getrimmt. Doch trotz Studiogeldern und -einsprachen ist die Geschichte des nordischen Königssohns Amleth (Alexander Skarsgård), der sich Anfang des 10. Jahrhunderts an seinem Onkel Fjölnir (Claes Bang) für den Mord an seinem Vater Aurvandill (Ethan Hawke) und die Entführung seiner Mutter Gudrún (Nicole Kidman) rächen will, vor allem eines: Eggers in Reinform.
Entsprechend fackelt der Film auch nicht lange. Wie die thematisch ähnlich gelagerte Mittelaltersage «The Green Knight» (2021) beginnt auch «The Northman» mit einem Voiceover vor feuriger Kulisse, welches das Publikum in die alles untermauernde Weltanschauung einführt: Man befindet sich unter Wikingern; hier herrschen die schicksalsspinnenden Nornen, der Glaube an Vorsehung, göttliche Einmischung und die Verteidigung der eigenen Ehre. Dispute werden mit Schwert und Schild ausgetragen; und wenn der Tod winkt, dann will das Odin Allvater eben so – zum Trost winkt am Ende ja der glorreiche Einzug nach Walhall.
Man fühlt sich in diesen ersten Sekunden, als würde einen der Film am Schlafittchen packen; und was folgt, scheint nicht daran interessiert zu sein, diesen Eindruck zu zerstreuen. Eggers inszeniert Amleths Weg vom properen Prinzchen (Oscar Novak) zum stiernackigen Berserker, der die slawischen Dörfer der Kiewer Rus quasi im Alleingang brandschatzt, mit einer geradezu elementaren Wucht.
Mit ausgedehnten, ruhig geführten Einstellungen kontrastiert Kameramann Jarin Blaschke das fiebrige Chaos, in welches das Leben des Helden gestürzt wird – und illustriert gleichzeitig, wie Amleth lernt, diesem Chaos Herr zu werden und es zu seinem Vorteil zu nutzen. Das ebenso animalische wie vulgäre Ritual, in dem Aurvandill und Hofnarr-Hohepriester Heimir (Willem Dafoe) den Prinzen in die männliche Körperlichkeit einführen, erweist sich als unzulängliche Vorbereitung auf das schreckliche Gemetzel, mit dem Fjölnir am nächsten Tag den Thron an sich reisst. Begleitet von Blaschkes Kamera, irrt Amleth durch die Festung seines Vaters; doch es scheint keinen Ausweg zu geben; überall fliesst das Blut von Aurvandills Gefolge.
«Amleth versucht nicht mehr, verzweifelt der blutigen Zerstörung auszuweichen – er selbst ist zum Zerstörer geworden.»
Ganz anders der Auftritt des erwachsenen Protagonisten: In Wolfspelzen gekleidet und von einem General auf Altnordisch aufgepeitscht, schreien sich Amleth und seine Schildbrüder im strömenden Regen in Plünderstimmung, bevor sie am nächsten Morgen die Heimat der Zauberin Olga (Anya Taylor-Joy) in Schutt und Asche legen. Amleth versucht nicht mehr, verzweifelt der blutigen Zerstörung auszuweichen – er selbst ist zum Zerstörer geworden, veranschaulicht durch eine lange, auf ihn fokussierte Plansequenz, in deren Verlauf er mit beängstigendem Gleichmut ein gutes Dutzend Dorfbewohner ins nächste Leben befördert.
Doch Eggers – wohl auch im Wissen darum, dass die Wikingerzeit inzwischen zum Lieblingsmotiv von Maskulinisten und Neonazis verkommen ist – verliert sich nicht im unkritischen Zelebrieren roher männlicher Gewalt. «The Northman» ist ein historischer Actionfilm, und seine immer wieder aufflammende Blutrünstigkeit trägt durchaus zu seinem konstant hohen Unterhaltungswert bei – aber spätestens nach der ersten Szene mit dem älter gewordenen Fjölnir wird offensichtlich, dass Amleths Rachefeldzug nicht in einen unzweideutigen Triumph des blindwütigen Berserkers münden kann.
«Doch Eggers – wohl auch im Wissen darum, dass die Wikingerzeit inzwischen zum Lieblingsmotiv von Maskulinisten und Neonazis verkommen ist – verliert sich nicht im unkritischen Zelebrieren roher männlicher Gewalt.»
Fjölnir, vom Dänen Claes Bang («The Square») mit einer anregenden Mischung aus patriarchaler Autorität und frommer Zurückhaltung gespielt, und seinen überschaubaren Hofstaat hat es in den Jahren seit seinem Massaker nach Island verschlagen, wo er versucht, seinen wenigen Untertanen und seinen multikulturellen Sklav*innen ein starker Anführer, seinem jüngsten Sohn Gunnar (Elliott Rose) ein vorbildlicher Vater, seiner entführten (?) Braut Gudrún ein guter Ehemann zu sein.
In diesem winzigen Landsitz im isländischen Niemandsland spielt der Grossteil der zweiten Hälfte von «The Northman», in der sich Amleth, als Sklave getarnt, auf seinen grossen Moment vorbereitet. Doch plötzlich scheint der zielstrebige Schicksalsglaube nicht mehr ganz so allmächtig zu sein: Gibt es vielleicht doch noch ein anderes Leben, als emotionslos auf den Tod eines anderen Menschen hinzuarbeiten? Was nützt einem die Herrlichkeit von Walhall, wenn man nicht dabei zuschauen kann, wie der eigene Stammbaum weitergeführt wird? Und ist ein Gesellschaftsgefüge, das auf die Macht der Stärksten ausgerichtet ist, nicht von vornherein dem Untergang geweiht?
«Es steht zu hoffen, dass Eggers‘ ambitionierte Vision beim Publikum auf Gegenliebe stösst: Die Welt braucht mehr originelles Budgetkino mit Anspruch.»
Es sind keine unerhört tiefgründigen Gedanken, die Eggers und Sjón hier umtreiben, gerade im Vergleich zu «The Witch» und «The Lighthouse». Doch sie sind mehr als nur spannend genug, um diesen ausladenden Wikinger-«Hamlet», mit all seinen sphärischen Visionen, sprechenden Schädeln, untoten Grabeshütern, Sehern (Ingvar Eggert Sigurðsson) und Seherinnen (Björk), thematisch und emotional zu erden.
Überhaupt werden die wenigen Vorwürfe, die man «The Northman» machen kann, von der schieren überwältigenden Kraft von Eggers‘ Inszenierung beiseite gewischt. Die Beziehung zwischen Amleth und Olga wirkt etwas deplatziert? Der Mittelteil, in dem Amleth auf der Lauer liegt, hätte ein wenig gestrafft werden können? Wen kümmert das schon, wenn es atemberaubende Panoramen, stimmigen schwarzen Humor, knochenbrechenden Wikingersport, mitreissende psychologische Katz-und-Maus-Spiele und herausragend inszenierte Schwert-und-Schild-Action zu bestaunen gibt? Es steht zu hoffen, dass Eggers‘ ambitionierte Vision beim Publikum auf Gegenliebe stösst: Die Welt braucht mehr originelles Budgetkino mit Anspruch.
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Kinostart Deutschschweiz: 21.4.2022 / Streambar auf Apple TV
Filmfakten: «The Northman» / Regie: Robert Eggers / Mit: Alexander Skarsgård, Anya Taylor-Joy, Claes Bang, Nicole Kidman, Oscar Novak, Ethan Hawke, Willem Dafoe, Gustav Lindh, Elliott Rose, Björk, Ingvar Eggert Sigurðsson, Ralph Ineson, Kate Dickie / USA / 137 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © 2022 Focus Features, LLC / © 2022 Universal Studios. All Rights Reserved.
Robert Eggers' «The Northman» ist ein authentisch gehaltener, höchst unterhaltsamer Historienfilm, der die Geschichte mitreissend zum Leben erweckt und gleichzeitig klug hinterfragt.
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