Armando Iannucci, der Satiriker hinter «Veep» und «The Death of Stalin», verdichtet in «The Personal History of David Copperfield» tausend Seiten Charles Dickens zu einer halsbrecherisch rasanten Komödie, die Lust aufs Lesen macht. So verfilmt man Klassiker.
Früher war alles ernster. Das ist das Bild, welches das Kino praktisch seit seiner Erfindung von der Zeit vor dem 20. Jahrhundert vermittelt. Was als «seriöse» Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aufgefasst werden soll, muss die Geschichte mit Samthandschuhen anfassen: Die Filme – «Mutiny on the Bounty» (1935), «Great Expectations» (1946), «Amistad» (1997), «Oliver Twist» (2005) und unzählige weitere – erzählen mit getragener Würde von gewissenhaften Männern und Frauen in düsteren Hinterzimmern und eleganten Salons, von gesitteten Konversationen bei Tisch, von grossen Schlachten und dem gesellschaftlichen Elend in den Strassen. Das Leben war hart, die Menschen hatten keine Zeit für Ausgelassenheit und Unfug – und das Historiendrama und die Literaturadaption sollen das auch zeigen.
Diese Prestige-Tradition – das Resultat von Filmpreiskonventionen und weit verbreiteten falschen Vorstellungen über vergangene Zeiten – hat dem Kino viele grosse Werke geschenkt. Doch sie hat sich über die Jahrzehnte auch zu einem so dominanten Modus entwickelt, dass sie allzu oft für die einzig akzeptable Annäherung an historische Stoffe gehalten wird. Das bekam Sofia Coppola 2006 zu spüren, als ihr eigenwilliger «Marie Antoinette» Kritik und Publikum mit Popmusik und Teenager-Drama vor den Kopf stiess.
Doch die letzten Jahre gaben ihr Recht: Filme wie Cary Joji Fukunagas braver «Jane Eyre» (2011) oder Josie Rourkes steifer «Mary Queen of Scots» (2018) haben kaum bleibende Spuren hinterlassen – ganz im Gegensatz zu Mike Leighs kernigen Dialogen in «Mr. Turner» (2014), der todtraurigen Beziehungsfarce, die Yorgos Lanthimos am Hof von Queen Anne in «The Favourite» (2018) aufzieht, dem berührenden Schwestern-Schabernack in Greta Gerwigs «Little Women» (2019), und der doppelbödigen Gesellschaftskomödie «Emma.» (2020), Autumn de Wildes Adaption von Jane Austens gleichnamigem Roman.
In diesem erstarkenden Kanon des zwangloseren Kostümfilms darf eine erneute Annäherung an Charles Dickens nicht fehlen. Der englische Über-Romancier, dessen Werke – darunter «Oliver Twist» (1839), «A Tale of Two Cities» (1859) und «Great Expectations» (1861) – zu Sinnbildern für das viktorianische Zeitalter geworden sind, wurde oft verfilmt, aber nicht immer vollumfänglich verstanden: Immer wieder liegt der Fokus auf Dickens’ Kritik an den sozialen Ungleichheiten, die er im England des 19. Jahrhunderts diagnostizierte; aber dass er diese Gedanken für seine breite Leserschaft gerne in hemmungslose Parodie, skurrile Schwafeleien und liebevolle Abschweifungen kleidete, bleibt in der Regel unerwähnt.
«Die Geschichte des Titelhelden, der bis ins Erwachsenenalter darum kämpft, Kontrolle über sein unstetes Leben zu erlangen, ist eine fulminante Mischung aus stilisiertem Sozialdrama, absurder Komödie und schwelgerischem Wohlfühlkino.»
Nicht aber in «The Personal History of David Copperfield», Armando Iannuccis dynamischer Interpretation von Dickens’ wohl autobiografischstem Bildungsroman. Die Geschichte des Titelhelden, der bis ins Erwachsenenalter darum kämpft, Kontrolle über sein unstetes Leben zu erlangen, ist eine fulminante Mischung aus stilisiertem Sozialdrama, absurder Komödie und schwelgerischem Wohlfühlkino – eine wilde Anekdotensammlung voller abrupter Schauplatzwechsel und überlebensgrosser Figuren.
Mit dem atemberaubenden Tempo, das man aus seinen Polit-Sitcoms «The Thick of It» (2005–2012) und «Veep» (2012–2019) kennt, rast Iannucci durch Davids Leben: Er wird als Kind (gespielt von Jairaj Varsani) von seinem bösen Stiefvater (Darren Boyd) vom idyllischen Land nach London geschickt, um beim windigen Schuldner Micawber (Peter Capaldi) zu leben und in einer Fabrik zu arbeiten. Er flieht als junger Erwachsener (fortan gespielt von Dev Patel) zu seiner Esel hassenden Tante Trotwood (Tilda Swinton) und freundet sich mit ihrem exzentrischen Untermieter Mr. Dick (umwerfend: Hugh Laurie) an – nur um wenig später in einer heruntergekommenen Schule zu landen, wo der schüchterne Uriah Heep (Ben Whishaw) alles daran setzt, die Karriereleiter zu erklimmen.
Im Grunde ist es sinnlos, «David Copperfield» mit einer Inhaltsangabe beikommen zu wollen. Denn der Weg ist, wie schon bei Dickens, das Ziel: Der springende Punkt ist nicht der David, der in einer Rahmenhandlung seine Biografie rekonstruiert, sondern die Umstände, unter denen er zu diesem David geworden ist – ein nicht enden wollender Reigen von Missgeschicken, Glücksmomenten, Pechsträhnen und Begegnungen. Dickens beanspruchte tausend Seiten für diese Reise, Iannucci nicht einmal zwei Stunden. Es überrascht nicht, dass der Film ins Straucheln gerät, sobald es auf das Ende – und damit auf die Auflösung jedes noch so überkandidelten Handlungsstrangs – zugeht.
Das lässt sich jedoch mühelos verkraften. Nach der etwas blutleeren schwarzen Komödie «The Death of Stalin» (2017) zeigt sich Iannucci in seiner Inszenierung ungewohnt experimentierfreudig – wobei er sich nur einige wenige Male verschätzt, etwa mit einer kaum überzeugenden Stummfilm-Einlage – und legt ein insgesamt hochgradig vergnügliches Ensemblestück voller Wortwitz und Slapstick vor. Beträchtlichen Anteil an diesem Erfolg hat auch der hervorragende Cast. Anders als in herkömmlichen Kostümfilmen sind die Rollen nicht nach der rassistisch geprägten Fantasie einer ethnisch homogenen Vergangenheit, sondern vielmehr nach persönlicher Eignung verteilt: So agiert hier nicht nur ein David Copperfield mit indischem Hintergrund, sondern unter anderen auch ein chinesisch-britischer Mr. Wickfield (Benedict Wong) – ein dauerbetrunkener Anwalt – und eine afrobritische Mrs. Steerforth (Nikki Amuka-Bird), eine resolute Landbesitzerin, die ihrem mit David befreundetem Sohn (Aneurin Barnard) immer wieder auf urkomische Art und Weise die Leviten liest. Über die Resultate dieser Casting-Philosophie lässt sich nicht streiten: Dickens’ Figuren haben auf der Leinwand noch selten dermassen lebendig gewirkt.
«Dickens’ Figuren haben auf der Leinwand noch selten dermassen lebendig gewirkt.»
«Lebendig» ist denn auch das Schlüsselwort in diesem «David Copperfield». Iannucci adaptiert klassische Literatur, indem er mit modernen Stilmitteln nahe am Text bleibt – er bleibt Dickens treu, ohne sich dem Stoff mit falscher Demut zu nähern. Damit gelingt ihm trotz eines überhasteten Endes ein für Adaptionen seltenes Kunststück: Er eröffnet einen neuen Blick auf sein Quellenmaterial und motiviert das Publikum zugleich dazu, sich mit diesem erneut – oder zum ersten Mal – auseinanderzusetzen.
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Kinostart Deutschschweiz: 10.9.2020
Filmfakten: «The Personal History of David Copperfield» / Regie: Armando Iannucci / Mit: Dev Patel, Jairaj Varsani, Tilda Swinton, Hugh Laurie, Peter Capaldi, Rosalind Eleazar, Ben Whishaw, Aneurin Barnard, Darren Boyd, Gwendoline Christie, Morfydd Clark, Daisy May Cooper, Benedict Wong, Paul Whitehouse, Nikki Amuka-Bird / Grossbritannien, USA / 119 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Ascot Elite Entertainment Group
In «The Personal History of David Copperfield» verfilmt Armando Iannucci Charles Dickens' Meisterwerk mit viel Tempo, noch mehr absurdem Witz und einem herausragenden Schauspielensemble.
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