Die neuseeländische Regisseurin Jane Campion inszeniert im hervorragenden Spätwestern «The Power of the Dog» einen intensiven, faszinierend widersprüchlichen Vierkampf um Sexualität, Geschlechterrollen und Macht.
Dass der Western seit jeher das Genre schlechthin ist, in dem «traditionelle» männliche Eigenschaften zelebriert werden, ist nichts Neues, ebenso wenig wie der Impuls, ebenjene Vorstellungen im Rahmen eines Westerns zu unterlaufen. Chloé Zhao («The Rider»), Jacques Audiard («The Sisters Brothers»), Ang Lee («Brokeback Mountain»), Clint Eastwood («Unforgiven»), ja selbst John Ford («The Man Who Shot Liberty Valance»), der grösste Western-Regisseur aller Zeiten – sie alle haben Filme gedreht, die sich kritisch mit dem Bild des rücksichtslosen, gewalttätigen Leinwand-Cowboys, der immerzu der Stärkste sein muss, auseinandersetzen.
Es ist also eine hehre Tradition, in die sich Oscarpreisträgerin Jane Campion in ihrer Verfilmung des Romans «The Power of the Dog» von Thomas Savage einreiht. Und auch ihr Interesse an diesem Stoff kommt nicht von ungefähr: Die Filmografie der Neuseeländerin ist geprägt von Werken, in denen Geschlechterrollen subversiv – und nicht immer auf unumstrittene Art und Weise – verhandelt werden. Gerade «The Piano» (1993) und «In the Cut» (2003) ecken dank ihres kompromisslosen Umgangs mit tabuisierter weiblicher Sexualität bis heute an.
Aus der Tatsache, dass «The Power of the Dog» zumindest auf dem Papier kein Neuland betritt, aber zu schliessen, dass Campion der Thematik nichts Nennenswertes mehr hinzuzufügen hätte, könnte falscher nicht sein. Ja, auch sie bedient den inzwischen altgedienten Western-Topos der geheim gehaltenen Homosexualität; auch sie interpretiert das Ende des alten Westens als eine einzige männliche Identitätskrise. Doch sie tut das mit der ihr eigenen Subtilität, mit einem Sinn für Nuancen und emotionale Grautöne, mit dem Mut, Dinge ungesagt und ungezeigt zu lassen und dem Publikum zwiespältige, bisweilen widersprüchliche Figuren vorzusetzen, die sich nicht in vorgefertigte Schablonen einzwängen lassen.

Kirsten Dunst als Rose
«Inmitten der endlosen Weite des US-Bundesstaates Montana – vertreten durch die atemberaubenden Landschaften des südlichen Neuseelands – inszeniert Campion ein beklemmendes Kammerspiel über eine toxische Vierecksbeziehung.»
Inmitten der endlosen Weite des US-Bundesstaates Montana – vertreten durch die atemberaubenden Landschaften des südlichen Neuseelands – inszeniert Campion ein beklemmendes Kammerspiel über eine toxische Vierecksbeziehung: 1925 spürt der tyrannische Rancher Phil Burbank (Benedict Cumberbatch), dass sein Berufsstand, den er um die Jahrhundertwende von seinem verehrten Vorbild Bronco Henry erlernte, langsam, aber sicher, dem Untergang geweiht ist. Das beste Beispiel dafür ist sein Bruder George (Jesse Plemons), der die Finanzen der Ranch im Auge behält und sich nichts aus anstrengenden Viehtrieben, schmutzigen Kleidern und Geschichten von Bronco Henry und den guten alten Zeiten macht.
So beteiligt er sich denn auch nicht dabei, als Phil und seine Arbeiter sich in einem Saloon über den lispelnden Servierjungen Peter (Kodi Smit-McPhee) und seine Papierblumen lustig machen, sondern kümmert sich um Peters verwitwete Mutter, die Gasthausbesitzerin Rose (Kirsten Dunst). Als George und Rose wenig später heiraten und sie in die stattliche Burbank-Ranch einzieht, ist Phil wild entschlossen, diesem Störenfried das Leben zur Hölle zu machen.
Nach 20, 30 Minuten scheint bereits offensichtlich zu sein, in welche Richtung sich «The Power of the Dog» entwickeln wird: Phil wird Rose und Peter bis zur Verzweiflung, vielleicht sogar bis zum Tod, piesacken, derweil George darum kämpft, die Courage aufzubringen, sich gegen seinen allmächtigen grossen Bruder zu stellen. Doch Campion macht es weder sich noch ihrem Publikum so einfach. Vielmehr entfaltet sich vor dem Hintergrund der entsättigt kalten Panoramabilder und bedrohlich schattenreichen Innenaufnahmen von Kamerafrau Ari Wegner («Lady Macbeth») ein faszinierendes Psychodrama über sich verschiebende Machtverhältnisse und unterschiedliche Formen von Kraft, Männlichkeit und Weiblichkeit.
«Vielmehr entfaltet sich vor dem Hintergrund der entsättigt kalten Panoramabilder und bedrohlich schattenreichen Innenaufnahmen von Kamerafrau Ari Wegner ein faszinierendes Psychodrama über sich verschiebende Machtverhältnisse und unterschiedliche Formen von Kraft, Männlichkeit und Weiblichkeit.»
Ist Phil zunächst ein sadistischer Unsympath sondergleichen, der nicht nur für Rose, sondern auch für den häuslichen George und den effeminierten Peter hauptsächlich Hohn und Spott übrig hat, erweist er sich nach und nach als eine weitaus komplexere Figur. Er hat, anders als sein Bruder, erfolgreich in Yale studiert und sich, so scheint es, bewusst für das enthaltsame Junggesellenleben eines homosexuellen Mannes in der verschwindenden Welt von Bronco Henry entschieden. Seine Wut und seine allzu nachdrücklich zur Schau gestellte Cowboy-Männlichkeit werden von Campion nicht als Selbsthass oder Verleugnung der eigenen Sexualität inszeniert, sondern als Erweiterung von Phils Versuch, den Lauf der Geschichte aufzuhalten.
Benedict Cumberbatch brilliert in dieser Rolle nicht trotz, sondern gerade wegen seiner fragwürdigen Eignung dafür: Er ist Brite, seine grössten Schauspielerfolge feierte er als Sherlock Holmes und als vergeistigter Computerpionier Alan Turing; das amerikanische Englisch, mit dem er im Marvel Cinematic Universe als Doctor Strange auftritt, wird regelmässig als aufgesetzt und inkonsistent bezeichnet. Entsprechend scheint sein Phil stets in Konflikt mit seiner eigenen Performance zu stehen, unsicher, wo die Grenzen zwischen seinem authentischen Selbst und seiner gelebten Hommage an archaische Western-Umgangsformen sind.
Dieses Bündel von miteinander konkurrierenden Eigenschaften wird ergänzt durch den nicht minder getriebenen Peter, der als klassisches Opfer gewaltsamer Homophobie eingeführt wird, sich in der Folge aber als durchaus wesensverwandt mit dem hypermaskulinen Ober-Rancher herausstellt. In einer grossartigen Schlüsselszene läuft Peter unter höhnischem Gejohle durch ein Arbeitercamp, um ein Elsternnest näher zu betrachten. Als er umkehrt, bleiben die Männer stumm, verunsichert durch das Ausbleiben einer Reaktion – eine passive Machtdemonstration, die wiederum Phil tief beeindruckt: Wahre Kraft ist, sich nicht darum zu kümmern, was andere über einen denken.

Kodi Smit-McPhee als Peter
«Genau das macht ‹The Power of the Dog› zu einem so einnehmenden Film: Er verwehrt seinem Publikum einfache Antworten, verlangt von ihm, etwaige Leerstellen selber zu füllen, und illustriert damit die schiere Vertracktheit menschlicher Geschlechtsidentitäten und Sexualitäten.»
Campion erkundet dieses Spannungsfeld zwischen Peter und Phil – ein Spannungsfeld, das durch die Präsenz von George und Rose und die zärtliche Darstellung ihrer Beziehung noch zusätzlich verkompliziert wird –, ohne sich in simplen psychoanalytischen Diagnosen und emotional und moralisch sauberen Auflösungen zu verlieren. Genau das macht «The Power of the Dog» zu einem so einnehmenden Film: Er verwehrt seinem Publikum einfache Antworten, verlangt von ihm, etwaige Leerstellen selber zu füllen, und illustriert damit die schiere Vertracktheit menschlicher Geschlechtsidentitäten und Sexualitäten. Und da sage noch jemand, der Western sei nicht mehr zeitgemäss.
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Filmfakten: «The Power of the Dog» / Regie: Jane Campion / Mit: Benedict Cumberbatch, Kirsten Dunst, Kodi Smit-McPhee, Jesse Plemons, Genevieve Lemon, Thomasin McKenzie, Keith Carradine, Frances Conroy / Neuseeland, Australien, USA, Grossbritannien, Griechenland / 126 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Netflix
In «The Power of the Dog» inszeniert Jane Campion vor einer atemberaubenden Western-Kulisse ein emotional komplexes, moralisch vetracktes Psychodrama über Macht und Sexualität.
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