Was geht im Kopf von demenzkranken Menschen vor? Beeinflusst vom Schicksal ihres jüngeren Bruders, versucht Sally Potter im Familiendrama «The Roads Not Taken», einen Blick hinter den Schleier des Vergessens zu werfen.
Regungslos liegt Leo (Javier Bardem) in seinem Bett, die offenen Augen an die Decke gerichtet. Das Telefon klingelt, es läutet an der Tür, vor dem Fenster donnert ein Zug der New Yorker Subway vorbei – doch der vielleicht 60-jährige Mann scheint das alles nicht zu bemerken: Der Körper ist da, der Geist hat sich weiss Gott wohin verabschiedet. So sehen das jedenfalls die meisten Menschen, die mit ihm konfrontiert werden – Supermarktpersonal, die Zahnärztin, der Augenarzt, sogar seine Ex-Frau (Laura Linney). Einzig seine Pflegerin Xenia (Branka Katić) und seine erwachsene Tochter Molly (Elle Fanning) sind darum bemüht, Leo wie ein denkendes, fühlendes Individuum zu behandeln.
Was Leo genau fehlt, wird in «The Roads Not Taken» nie explizit gesagt. Nicht einmal das Wort «Demenz» findet je Erwähnung – dafür jede Menge Hüftschuss-Diagnosen: Wohin Molly ihren Vater auf seiner Arztbesuch-Odyssee auch bringt, schlagen ihm herablassende Euphemismen («Is he all there?») und Ressentiments jeglicher Couleur entgegen, von «Does he even speak English?» bis «Go back to your country, you fucking Mexican!». Es sind Reaktionen, die der Regisseurin und Drehbuchautorin Sally Potter («Orlando», «The Party») nicht fremd sein dürften: Ihr jüngerer Bruder – der Musiker Nic Potter, dem der Film gewidmet ist – starb 2013 nach einem zweijährigen Kampf mit der Pick-Krankheit, einer aggressiven, früh einsetzenden Form von Demenz.
Anders als etwa Richard Glatzer und Wash Westmoreland in «Still Alice» (2014) gibt sich Potter aber nicht damit zufrieden, Leos Zustand hauptsächlich von aussen zu betrachten. Während Molly mit Leo von Termin zu Termin hetzt, erhält das Publikum Einblick in die Gedankenwelt des in sich versunkenen Patienten: Vor seinem geistigen Auge durchlebt er noch einmal den Konflikt, aufgrund dessen er seiner ersten grossen Liebe (Salma Hayek) – und seiner mexikanischen Heimat – einst den Rücken kehrte; und auch die Erinnerung an einen Ferienflirt mit einer viel jüngeren Touristin (Milena Tscharntke) auf einer griechischen Insel scheint an ihm zu nagen.
«Dieses Zusammenspiel zwischen realer Gegenwart und bereuter, verklärter, umgedeuteter, fantasierter Vergangenheit ist ein vielversprechender Ausgangspunkt für einen Film über Demenz.»
Dieses Zusammenspiel zwischen realer Gegenwart und bereuter, verklärter, umgedeuteter, fantasierter Vergangenheit ist ein vielversprechender Ausgangspunkt für einen Film über Demenz. Die Darstellung von Leos mentalen Prozessen gewährt dem Publikum Zugang zur Person hinter der Krankheit und erlaubt es ihm, ihn durchgehend als funktionierende Persönlichkeit wahrzunehmen. So gelingt es Potter auch, die tragische Distanz herauszuarbeiten, die ihn selbst von der hingebungs- und verständnisvollen Molly trennt: Wenn Leo scheinbar aus dem nichts «Dolores» murmelt, weiss man als Zuschauer*in, wer und was damit gemeint ist, derweil seine Tochter nur Bahnhof versteht – und dennoch versucht, einfühlsam auf diese kryptische Äusserung einzugehen.
Diese Momente der fast gelungenen Kommunikation sind die Höhepunkte eines Films, der insgesamt zu stark von emotionaler Kurzschrift lebt. Der demente Leo wird mit fast schon voyeuristischem Eifer auf jede nur erdenkliche Weise gedemütigt, doch Javier Bardem stehen wegen der pathologischen Apathie seiner Figur keine sonderlich aussagekräftigen Reaktionen zur Verfügung. Die Episoden aus der Vergangenheit wiederum bleiben lediglich grobe Skizzen, die auf ein antiklimaktisches – und, offen gesagt, irreführend optimistisches – Ende zusteuern.
«Entsprechend ist ‹The Roads Not Taken› ein Drama von frustrierender emotionaler Trägheit – ein Defizit, das von Potters allzu simpler Figurenzeichnung und den pathetisch-sentimentalen Dialogen noch vertieft wird.»
Entsprechend ist «The Roads Not Taken» ein Drama von frustrierender emotionaler Trägheit – ein Defizit, das von Potters allzu simpler Figurenzeichnung und den pathetisch-sentimentalen Dialogen noch vertieft wird. Sosehr das Konzept dem Thema der Demenz auch gerecht werden mag: Die Ausführung bleibt unbefriedigend.
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Kinostart Deutschschweiz: 30.7.2020
Filmfakten: «The Roads Not Taken» / Regie: Sally Potter / Mit: Javier Bardem, Elle Fanning, Salma Hayek, Laura Linney, Branka Katić, Milena Tscharntke / USA, Grossbritannien, Schweden / 85 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi
Sally Potter unternimmt den löblichen Versuch, Demenz nicht von aussen, sondern von innen darzustellen. Leider hindert ein schwaches Drehbuch «The Roads Not Taken» am Erfolg.
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