Der unter hochgradig prekären Verhältnissen gedrehte iranische Dissidentenfilm ist längst zu einem eigenen Genre geworden. Regisseur Mohammad Rasoulof, der seit einigen Monaten im Exil lebt, legt mit «The Seed of the Sacred Fig» nicht nur ein besonders eindringliches Exemplar vor, sondern denkt die Form auch gleich kreativ weiter.
Acht Jahre Gefängnishaft, Peitschenhiebe, eine Busse und Konfiszierung des Eigentums: Mit dieser Strafe wurde der Regisseur und Drehbuchautor Mohammad Rasoulof («There Is No Evil») vom iranischen Staat belegt, nachdem sein neuester Film, das Thrillerdrama «The Seed of the Sacred Fig», im Frühling 2024 für den Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes ausgewählt worden war. Rasoulof ist der Regierung schon länger ein Dorn im Auge: Seit 2010 ist er immer wieder zu Geld- und Haftstrafen verurteilt worden, und er ist zusammen mit Jafar Panahi («3 Faces», «No Bears») wohl der international prominenteste regimekritische Künstler im Iran.
Unerwartet kamen diese Repressalien also nicht, doch sie übertrafen in ihrer Intensität alles, was Rasoulof bislang über sich ergehen lassen musste. «Schweren Herzens», schrieb er in seinem Kommentar zu «The Seed of the Sacred Fig» im Katalog des Filmfestivals von Locarno, «entschied ich mich fürs Exil» – eine Flucht, die insgesamt 28 Tage in Anspruch nahm und nicht nur eine heimliche Grenzüberquerung zu Fuss, sondern auch einen mehrtägigen Aufenthalt in einem Geheimversteck erforderte.
Rasoulof und «The Seed of the Sacred Fig» stehen so fast schon sinnbildlich für die prekäre Lage, in der sich das iranische Kino befindet. Es mag ihm in den letzten 20 Jahren, während derer die staatliche Zensur strikter, die Repressionen der Sittenpolizei aggressiver wurden, zwar mit erstaunlicher Regelmässigkeit gelungen sein, die gesellschaftlichen und politischen Missstände in der Islamischen Republik zumindest auf internationalen Grossleinwänden anzuprangern – von Rasoulofs und Panahis Werken über jene von Asghar Farhadi («The Salesman», «A Hero») und Mani Haghighi («Modest Reception», «Pig») bis hin zu Filmen wie Panah Panahis «Hit the Road» (2021), Ali Asgaris «Until Tomorrow» (2022), Behrooz Karamizades «Empty Nets» (2023) oder dem aktuell in den Deutschschweizer Kinos laufenden «My Favourite Cake» von Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha.
«Die bewährten Schlupflöcher für die künstlerische Freiheit wurden verkleinert oder sogar ganz verschlossen; und wie Rasoulofs Schicksal gezeigt hat, schützt auch ein internationales Profil nicht mehr vor den härtesten Konsequenzen, die das Schaffen von regimekritischer Kunst nach sich ziehen kann.»
Doch im Zuge der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen im Iran, wo seit 2017 gezielt gegen die für Frauen geltende Hijabpflicht demonstriert wird und der gewaltsame Tod von Mahsa Amini im September 2022 für monatelange Protestzüge gegen Regierung und Polizei sorgte, nahmen auch die staatlichen Restriktionen zu: Die bewährten Schlupflöcher für die künstlerische Freiheit wurden verkleinert oder sogar ganz verschlossen; und wie Rasoulofs Schicksal gezeigt hat, schützt auch ein internationales Profil nicht mehr vor den härtesten Konsequenzen, die das Schaffen von regimekritischer Kunst nach sich ziehen kann.
«The Seed of the Sacred Fig» ist in jeder Faser von dieser Spannung geprägt. Produktionstechnisch, weil der Film im Geheimen gedreht werden musste. Erzählerisch, weil er mit unverblümter Direktheit vom Widerstand gegen das Regime – und den immer brutaler werdenden Kampf des Regimes gegen seine Kritiker*innen – handelt. Künstlerisch, weil Rasoulof hier auch von einem befreiten Kino träumt, das sich den Erwartungen widersetzen kann, die das internationale Festival- und Arthouse-Publikum derzeit an «den iranischen Film» stellt.
Benannt nach dem heiligen Feigenbaum, der sich durch die Strangulierung eines anderen Baums fortpflanzt – eine transparente Metapher für die iranische Theokratie –, handelt «The Seed of the Sacred Fig» von einer tief gespaltenen Teheraner Mittelklassefamilie. Deren Oberhaupt, der Anwalt Iman (Missagh Zareh), wird am Islamischen Revolutionsgericht zum Untersuchungsrichter befördert, von dem in erster Linie eines erwartet wird: Todesurteile durchwinken, ohne die Fälle dahinter gross zu hinterfragen.
Imans Ehefrau Najmeh (Soheila Golestani) hält treu zu ihm – auch weil seine Beförderung zum Bezug einer grösseren Wohnung führen könnte –, während Rezvan (Mahsa Rostami) und Sana (Setareh Maleki), die beiden Töchter des Paars, Sympathien für die demonstrierenden Studierenden auf den Strassen der iranischen Hauptstadt hegen und schockiert sind von den Bildern der Polizeigewalt, die sie in Facebook- und Instagram-Livestreams zu sehen bekommen. Die schwelenden Konflikte innerhalb der Familie beginnen zu eskalieren, als Imans neuer Dienstrevolver spurlos verschwindet und ihm alle drei Frauen in «seinem» Haushalt wie plausible Verdächtige vorkommen.
«Es gibt gute Gründe, warum Rasoulof zu den besten iranischen Filmschaffenden der Gegenwart gehört – und ‹The Seed of the Sacred Fig› ist ein äusserst anschauliches Beispiel dafür.»
Es gibt gute Gründe, warum Rasoulof zu den besten iranischen Filmschaffenden der Gegenwart gehört. So wie Jafar Panahis Filme immer auch raffinierte Reflexionen über die Natur des Filmemachens sind, so hat Rasoulof ein grossartiges Gespür dafür, seine Werke in unerwartete, auf den ersten Blick vielleicht sogar widersinnige Richtungen zu entwickeln, um dem Stoff so zusätzliche thematische Kraft zu entlocken – und «The Seed of the Sacred Fig» ist ein äusserst anschauliches Beispiel dafür.
Der Film verhält sich über weite Strecken tatsächlich so, wie man es von einem 168-minütigen Familiendrama über die Hierarchie der Geschlechter im modernen Iran erwarten würde. Geduldig wird der Alltag der Protagonist*innen skizziert: Durch Pooyan Aghababaeis Kamera, die, ganz genrekonform, viel in Bewegung ist und die Figuren aus nächster Nähe zeigt, wird man Zeug*in, wie Iman am Revolutionsgericht – dessen Korridore, wohl als augenzwinkernde Anspielung auf die logistischen Einschränkungen der Produktion, von Pappaufstellern von iranischen Würdenträgern bevölkert sind – dicke Akten durchforstet, wie Najmeh Rezvan zur Universität und Sana zur Schule fährt und sich den Rest des Tages um eine möglichst effiziente Haushaltsführung bemüht. Wiederholt werden die beiden Töchter in naturalistisch gespielten, intensiv-ausgedehnten Dialogszenen ermahnt, nichts zu tun, was dem Ansehen ihres Vaters schaden könnte: Die Proteste seien Teufelszeug, Feminismus Propaganda des Feindes.
«Die aktuelle iranische Protestbewegung, die im Film auch in Form von echten Handyvideos von Demonstrierenden auftritt, stellt eine Zeitenwende in der nationalen Geschichte dar. So wie es war, wird es nie wieder sein.»
Rasoulof setzt diese relativ konventionelle Erzählform tadellos um – mit tatkräftiger Unterstützung von den schauspielerischen Leistungen von Soheila Golestani, Missagh Zareh, Mahsa Rostami und Setareh Maleki – und schafft es, die komfortable, aber doch überschaubare Wohnung seiner vier Hauptfiguren in einen überzeugenden Mikrokosmos der iranischen Gesellschaft zu verwandeln: Hier Iman, der zunehmend überforderte, paranoide und emotional labile Regime-Patriarch, und Najmeh, die Harmonie und Wohlstand priorisierende «gemässigte» Kraft – die «apolitische» Mitte der Gesellschaft, deren Schweigen die Diktatur legitimiert –, dort Rezvan und Sana, die politisierten, vom theokratischen Muff endgültig desillusionierten jungen Frauen.
Es ist kein Zufall, dass der Film genau dann seinen narrativen und stilistischen Wendepunkt erreicht, als Sadaf (Niousha Akhshi), eine aktivistisch tätige Freundin von Rezvan, in die Wohnung geschleust wird und so die Realität der Demonstrationen in Iman und Najmehs sonst so hermetisch abgeriegeltes inneres Heiligtum trägt. Die Implikation – oder zumindest die Hoffnung – ist klar: Die aktuelle iranische Protestbewegung, die im Film auch in Form von echten Handyvideos von Demonstrierenden auftritt, stellt eine Zeitenwende in der nationalen Geschichte dar. So wie es war, wird es nie wieder sein.
Und «The Seed of the Sacred Fig» nimmt sich diese Idee vom Zurücklassen der alten Formen zu Herzen: Im letzten Drittel des Films bricht Rasoulof aus dem bekannten Genreschema aus, lässt das Zuhause der Protagonist*innen hinter sich und begibt sich in anregende neue Gefilde. Hier erwartet das Publikum nicht nur eine beängstigende Verhörszene, ein fast unerträglich spannender Heist und eine surreale Hatz durch eine gespenstische Bergdorfruine, sondern sogar eine waschechte Autoverfolgungsjagd.
«Der Gang- und Schauplatzwechsel mag zunächst ein wenig abrupt wirken, ist letztlich aber eine konsequente dramatische und thematische Eskalation.»
Der Gang- und Schauplatzwechsel mag zunächst ein wenig abrupt wirken, ist letztlich aber eine konsequente dramatische und thematische Eskalation. Zum einen ermöglicht sie es dem Film, seine zentrale Metapher vom totalitären Staatsgeist, der ins Familiengefüge gesickert ist und es von innen zersetzt, auf die Spitze zu treiben: Ja, das System ist perfid und korrupt, doch wie Iman schliesslich auf eindrucksvolle Weise illustriert, fusst es, allermindestens in Teilen, halt doch auf dem banalen Überlegenheitskomplex seiner willigen Vollstrecker*innen.
Zum anderen scheint die im besten Sinne kuriose Schlussdreiviertelstunde dem unangenehmen Gedanken Rechnung zu tragen, dass das Streben nach Veränderung kein Schnellschuss sein kann. Bevor «The Seed of the Sacred Fig» seine mehrdeutige, vorsichtig optimistische letzte Einstellung voller Schutt, Asche und Morgenlicht erreicht, müssen seine Figuren diverse traumatische Szenarien über sich ergehen lassen – als ob Rasoulof, wohl auch aus eigener Erfahrung, mahnen wollte, dass sich die Lage vielleicht verschlechtern wird, bevor sie sich verbessert.
Gleichzeitig darf dieser auffällige Schlenker auf der Zielgerade aber wohl auch als Herausforderung an das iranische Kino und sein internationales Publikum verstanden werden. Die Thriller-Einschläge, die Rasoulof in diesen letzten Akt integriert, sind nicht das, was man von einem Film wie «The Seed of the Sacred Fig» in der Regel erwartet; doch sie sind sowohl eine überraschend stimmige Erweiterung einer vertrauten Form als auch eine anregende Vision eines posttotalitären iranischen Filmschaffens, das die künstlerische Freiheit und den kreativen Spielraum hat, von etwas anderem als der politischen Gegenwart zu handeln.
«Die Thriller-Einschläge, die Rasoulof in diesen letzten Akt integriert, sind eine anregende Vision eines posttotalitären iranischen Filmschaffens, das die künstlerische Freiheit und den kreativen Spielraum hat, von etwas anderem als der politischen Gegenwart zu handeln.»
Durch Rasoulofs neuesten Film geistern neben der packend, emotional aufwühlend vorgetragenen Wut und Verzweiflung über den zeitgenössischen Iran also auch die Phantome all jener Filme, die der Regisseur unter den gegenwärtigen Vorzeichen nicht realisieren kann. Mit dieser faszinierend subtil inszenierten Abwesenheit wird «The Seed of the Sacred Fig» unverhofft zu einer Art Begleitwerk zu Jafar Panahis halbdokumentarischer Meta-Tragikomödie «Taxi» (2015), einem der grossen Meisterwerke des iranischen Dissidentenfilms – und Rasoulof muss diesen Vergleich wahrlich nicht scheuen.
Über «The Seed of the Sacred Fig» wird auch in Folge 78 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 14.11.2024
Filmfakten: «The Seed of the Sacred Fig» («دانهی انجیر معابد», «Dāne-ye anjīr-e ma’ābed») / Regie: Mohammad Rasoulof / Mit: Soheila Golestani, Missagh Zareh, Mahsa Rostami, Setareh Maleki, Niousha Akhshi / Iran, Deutschland, Frankreich / 168 Minuten
Bild- und Trailerquelle: trigon-film
Mohammad Rasoulof übt mit dem intensiven «The Seed of the Sacred Fig» scharfe Kritik am iranischen Regime und denkt dabei das «Genre» des iranischen Dissidentenfilms produktiv weiter.
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