Die minimalistische Handlung und die emotionale Distanziertheit von «The Souvenir» dürften nicht jedermanns Sache sein. Doch hinter der reservierten Inszenierung von Joanna Hogg steckt ein eindrucksvolles Beziehungs- und Coming-of-Age-Drama.
Julie (Honor Swinton Byrne) ist jung, schüchtern und wild entschlossen, etwas anderes als das privilegierte Leben, das ihr ihre reichen Eltern (Tilda Swinton, James Spencer Ashworth) bis anhin ermöglicht haben, kennenzulernen. Im London der frühen Achtzigerjahre studiert sie an der Filmschule, mit dem Ziel, ein Projekt zu realisieren, das von ihrem eigenen Leben weiter entfernt nicht sein könnte. Ein Drama über die Arbeiterklasse in der nordenglischen Hafenstadt Sunderland will sie realisieren, sehr zum Erstaunen ihrer Professoren: Was sie sich davon verspreche, in ein für sie fremdes Umfeld einzutauchen, wollen sie wissen. Ob ihre Figuren auf real existierenden Personen basieren. Ob es vielleicht nicht doch besser wäre, einen Dokumentarfilm zu machen. Doch Julie lässt sich nicht beirren: Ihre Geschichte sei fiktiv; aber die Gefühle, die dabei zum Ausdruck kämen, entstammten der gelebten Erfahrung.
Ähnlich verhält es sich mit «The Souvenir». Joanna Hogg erzählt hier nicht strikt autobiografisch von ihren prägenden Jahren in der radikalen Londoner Kunstszene, wo sie ab 1980 Schulter an Schulter mit Kultfiguren wie Derek Jarman und Tilda Swinton gegen den kulturellen Thatcher-Mief anfilmte. Vielmehr verdichtet sie hier ihre Erinnerungen an diese Zeit zu einer tragischen Liebesgeschichte, in der Julies künstlerische Aspirationen aufgrund einer toxischen Beziehung immer mehr in den Hintergrund rücken.

Courtesy of A24 / Foto: Nikola Dove.
In einer der ersten Szenen begegnet Hoggs Protagonistin auf einer Party dem signifikant älteren Anthony (Tom Burke) – einem weltgewandten, kultivierten und geheimnisvoll verschlossenen Aussenministeriumsbeamten, der aus einem John–le–Carré-Roman entsprungen sein könnte –, verliebt sich und lässt ihn bei sich einziehen. Doch je länger die beiden zusammen sind, desto mehr erweist sich Anthony als manipulativer Partner, der Julie daran hindert, wirklich selbstständig zu werden.
«Hogg ist die Erinnerung, der einzelne Moment, wichtiger als Kausalität und Chronologie.»
Man könnte sich diese Anatomie einer dem Untergang geweihten Beziehung gut als emotionsgeladenes Drama nach dem Muster von «Revolutionary Road» (2008) oder «Marriage Story» (2019) vorstellen. Doch der Film heisst nicht umsonst «The Souvenir», nach Anthonys Lieblingskunstwerk, einem Rokoko-Miniaturgemälde von Jean-Honoré Fragonard, in dem eine junge Verliebte mit vieldeutiger Miene an ihren fernen Liebhaber denkt. Hogg ist die Erinnerung, der einzelne Moment, wichtiger als Kausalität und Chronologie.
Dass es bisweilen schwer zu sagen ist, ob «The Souvenir» zeitlich linear erzählt wird, wie viel Zeit jeweils zwischen individuellen Episoden vergeht, wie lange Julie und Anthony insgesamt überhaupt ein Paar sind, ist der springende Punkt: Ein Erlebnis allein schafft noch keine Identität – es ist das rückblickende Bewerten und Einordnen unserer Erlebnisse, das uns zu den Menschen macht, die wir sind. Der Film ist keine minutiöse Obduktion von Julies erster grosser Liebe – und Hoggs Werdegang zur Regisseurin –, sondern eine Sammlung von Schnappschüssen, die es kritisch und wehmütig zugleich zu betrachten gilt.

Courtesy of A24 / Foto: Diana Patient.
«Der Film ist keine minutiöse Obduktion von Julies erster grosser Liebe – und Hoggs Werdegang zur Regisseurin –, sondern eine Sammlung von Schnappschüssen, die es kritisch und wehmütig zugleich zu betrachten gilt.»
Diese Vision ist anregend, franst in der Praxis aber leider etwas aus. Zwar überzeugen sowohl Honor Swinton Byrne – Tilda Swintons Tochter – als auch Tom Burke mit faszinierend enigmatischen, aber zu keinem Zeitpunkt vagen Darstellungen; und auch das visuelle Konzept, mit seinen körnigen, grau-blauen Bildern von gestreng-ordentlichen Innenräumen, weiss zu begeistern. Doch Hoggs Mischung aus impliziter Figurenentwicklung und reservierter Beobachtung aus der Distanz wirkt mitunter etwas gar kalt, was das Ganze einer gewissen emotionalen Ausdrucksstärke beraubt. So stehen sich in «The Souvenir» zwei an sich gelungene Aspekte – eine scharfsinnige Idee und eine eigenwillige Ausführung – letztlich etwas im Weg.
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Kinostart Deutschschweiz: 6.8.2020
Filmfakten: «The Souvenir» / Regie: Joanna Hogg / Mit: Honor Swinton Byrne, Tom Burke, Tilda Swinton, James Spencer Ashworth, Jack McMullen, Richard Ayoade / USA, Grossbritannien / 119 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Courtesy of A24 / Titelfoto von Agatha Nitecka.
Joanna Hoggs Geschichte einer toxischen Beziehung ist spannend aufgezogen und visuell hervorragend umgesetzt. Leider hält die kalte Inszenierung das Publikum ein wenig auf Distanz.
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[…] | Alan Mattli @ Maximum Cinema […]