In seiner ersten Regiearbeit ohne seinen Bruder Ethan versucht sich Joel Coen an einer Neuinterpretation von William Shakespeares «Macbeth». Sein «The Tragedy of Macbeth» mag nicht die raffinierteste Adaption des legendären Stücks sein, begeistert aber mit aussergewöhnlichen Bildern und zwei ganz besonderen Schauspielleistungen.
Adaption bedeutet immer auch Interpretation. Das ist ein Grundsatz, der für die Werke von William Shakespeare ganz besonders gilt: Unzählige Male wurden die berühmtesten Stücke des grossen englischen Dramatikers schon aufgeführt, umgeschrieben, neu gedeutet und verfilmt, sodass sich bei jedem weiteren Versuch unweigerlich die Frage stellt, ob die Verantwortlichen etwas Substanzielles zum bestehenden Kanon hinzufügen können – oder ob sie sich damit zufriedengeben, einfach wieder einmal die raffinierten Geschichten und unsterblichen Worte des «Barden» zu zelebrieren.
«Macbeth» ist ein Paradebeispiel für diese Dynamik. Die historisch inspirierte Tragödie über den hochmittelalterlichen Fürsten Macbeth, der mithilfe von kaltblütigen Morden den schottischen Thron an sich reisst, an seiner eigenen Paranoia zugrunde geht und durch einen rechtmässigen Nachfolger ersetzt wird, wurde 1606 oder 1607 uraufgeführt und hatte zu dieser Zeit wohl einen ziemlich profanen Daseinszweck. Shakespeare und seine Theatertruppe standen unter der Schirmherrschaft des 1603 gekrönten Königs James I., eines Schotten aus dem Hause Stuart, dessen nicht unumstrittene Thronfolge der 118-jährigen Herrschaft der englischen Tudor-Dynastie ein Ende setzte. Also stellten Shakespeare und Kompanie ein populäres Theaterstück auf die Beine, das ihrem prominenten Geldgeber entgegenkam, indem es den schottischen Anspruch auf den englischen Thron legitimierte.
Gleichzeitig ist «Macbeth», trotz seiner anhaltenden Beliebtheit als Schlüsselwerk in Shakespeares Schaffen, auch eine Kuriosität: Es ist das kürzeste aller Shakespeare-Stücke – so kurz, dass gewisse Exeget*innen mutmassen, die überlieferten Fassungen enthielten nicht alle Szenen. Vereinzelte Szenen tragen gar die Spuren möglicher Co-Autoren.
«Wer also ‹Macbeth› adaptieren will, braucht den Willen, über den nackten Text und seinen originalen Kontext hinauszudenken, und die Fantasie, die scheinbaren Lücken in der Geschichte elegant zu füllen, oder sich stimmig mit ihnen zu arrangieren.»
Wer also «Macbeth» adaptieren will, braucht den Willen, über den nackten Text und seinen originalen Kontext hinauszudenken, und die Fantasie, die scheinbaren Lücken in der Geschichte elegant zu füllen, oder sich stimmig mit ihnen zu arrangieren. Meisterregisseur Akira Kurosawa machte es 1957 vor, als er sich in «Throne of Blood» von Shakespeares ikonischer Sprache lossagte, das schottische Blutbad ins Japan des 16. Jahrhunderts verlegte und die konservative Moralfabel über die Tücken eines schlechten Königs in eine desillusionierte Abrechnung mit dem Konzept der Erbfolgemonarchie an sich verwandelte.
Doch auch betont werkgetreue Adaptionen haben das Potenzial, ihrem Publikum neue Perspektiven zu eröffnen: Justin Kurzels unterbewerteter «Macbeth» aus dem Jahr 2015 etwa lässt Text, Schauplatz und historischen Hintergrund weitgehend unangetastet, schafft es aber dank klugen visuellen Erzählens, faszinierende Zweideutigkeiten zu verhandeln, auf die im Stück selber nicht weiter eingegangen wird. (Wie viele Kinder hatte Lady Macbeth? Wie viele Dolche sieht Macbeth in seinem Wahn? Kurzel liefert Antworten.)
Entsprechend gespannt durfte man sein, welche ungeahnten (Un)tiefen Joel Coen in seiner «Macbeth»-Adaption – seinem ersten Film, den er ohne seinen Bruder und langjährigen Regie- und Drehbuchpartner Ethan Coen realisierte – erkunden würde. Die Antwort: «The Tragedy of Macbeth» ist ein hervorragendes Stück Filmhandwerk, wenngleich keine berauschende Shakespeare-Verfilmung.
Das bedeutet aber nicht, dass Coen nichts Spannendes mit dem Material versucht. Im Gegenteil: «The Tragedy of Macbeth» scheint gleich in mehrerlei Hinsicht darum bemüht zu sein, die Schnittstellen zwischen Kino, klassischem und modernem Theater zu finden. Wie gut das funktionieren kann, zeigt allein schon die Darbietung der britischen Theaterschauspielerin und -regisseurin Kathryn Hunter: Sie spielt die drei Hexen, die Macbeth (Denzel Washington) nach einer gewonnenen Schlacht den Aufstieg auf den Thron prophezeien, seinen besten Freund Banquo (Bertie Carvel) aber als Urvater des künftigen Königsgeschlechts identifizieren.
«‹The Tragedy of Macbeth› ist ein hervorragendes Stück Filmhandwerk, wenngleich keine berauschende Shakespeare-Verfilmung.»
Hunter spricht die Knittelverse der Hexen in drei verschiedenen Stimmlagen, alle tief und leicht röchelnd – ein Echo der unvergesslichen Chieko Naniwa in «Throne of Blood» –, doch sie artikuliert sie, ganz ihrer klassischen Schauspielschulung gemäss, stets so deutlich, dass man sie wohl auch in einem Theatersaal noch verstehen würde. Zugleich ist ihre Performance von einer geradezu unheimlichen Körperlichkeit: Während ihres ersten Auftritts verrenkt sie sich wie ein Schlangenmensch, wodurch sie nicht nur das «unnatürliche» Wesen der «Weird Sisters», wie sie im Stück genannt werden, unterstreicht, sondern auch daran erinnert, dass sie eine Vertreterin des sogenannten phyischen Gegenwartstheaters ist.
Seine filmische Qualität erhält Hunters Schauspiel indes durch Coens Regie und die kontrastreichen Schwarzweissbilder von Bruno Delbonnel: Mal ist sie ein sprechender schwarzer Schatten im Gespärre von Macbeths gespenstisch leerem Schloss; mal ist sie am Ufer eines nebelverhangenen Teiches zu sehen, in dessen Oberfläche sie sich, Filmmagie sei Dank, gleich doppelt spiegelt.
Überhaupt trumpft «The Tragedy of Macbeth» insgesamt vor allem durch seine visuelle Kraft auf. Delbonnels digitale High-Definition-Aufnahmen im beinahe quadratischen Academy-Format harmonieren prächtig mit der kantig-kargen, hochgradig stilisierten Kulissen-Ausstattung von Stefan Dechant mit ihren grossen leeren Flächen und ihren unnatürlich langen, harten Schatten.
Auch hier sucht Coen die Überlappungen zwischen Shakespeare und der Geschichte des Kinos: Die schaurig künstliche Ästhetik erinnert an den expressionistischen Stummfilm, an die verzerrten Dimensionen von «Das Cabinet des Dr. Caligari» (1920), an den Kontrast zwischen detailreichen Nahaufnahmen und angedeuteten Hintergründen in «La Passion de Jeanne d’Arc» (1928) – und verankert die innere Zerrissenheit und den schwelenden Wahnsinn Macbeths damit tief in einem filmhistorischen Kontext, der für die Darstellung ebendieser Gefühlslagen besonders berühmt ist.
«Überhaupt trumpft ‹The Tragedy of Macbeth› insgesamt vor allem durch seine visuelle Kraft auf. Delbonnels digitale High-Definition-Aufnahmen im beinahe quadratischen Academy-Format harmonieren prächtig mit der kantig-kargen, hochgradig stilisierten Kulissen-Ausstattung von Stefan Dechant mit ihren grossen leeren Flächen und ihren unnatürlich langen, harten Schatten.»
Als etwas weniger treffsicher erweist sich diese Mischung aus Theaterhaftigkeit und filmischem Flair auf der schauspielerischen Ebene. Hunter spielt in einer ganz eigenen Liga; und auch ein paar andere Darsteller wissen zu begeistern: So gelingt es Denzel Washington trotz Coens sprunghafter Figurenentwicklung – das Resultat des etwas unsteten Erzähltempos und der nicht restlos geschlossenen Textlücken –, Macbeth emotional zu erden. Gerade sein «Tomorrow, and tomorrow, and tomorrow»-Monolog, neben Hamlets «To be or not to be» wohl Shakespeares bekannteste Passage, ist ein unerwartet berührender Moment, da Washington mittels sorgfältiger Betonung und wohltemperierter Mimik den herzzerreissenden Kern der inzwischen fast schon zum Gemeinplatz gewordenen Rede freilegt.
Anderswo nutzen Brendan Gleeson als König Duncan, Harry Melling (Dudley Dursley in den «Harry Potter»-Filmen) als Duncans Erbe Malcolm, Corey Hawkins als «Kingslayer» Macduff und Stephen Root als derbe witzelnder Pförtner ihre Chance, sich als Shakespeare-sichere Mimen zu empfehlen.
Einen weniger sattelfesten Eindruck hinterlassen jedoch ausgerechnet jene Darsteller*innen, deren Figuren für das Geschehen weitaus relevanter sind. Oscarpreisträgerin Frances McDormand («Nomadland») läuft zu Hochform auf, wenn sie als Lady Macbeth ihren zaudernden Ehemann zum Mord an Duncan überredet, vermag in der Folge aber nicht, die manische Intriganz zu verkörpern, welche die Lady Macbeth zu einer solch einnehmend zwiespältigen Frauenfigur macht. Bertie Carvel wiederum spricht den Grossteil von Banquos zusammengekürzten Dialogzeilen so überhastet und emotionslos, als würde er sie direkt vom Blatt ablesen. Möglicherweise ist auch das als Hommage ans moderne Theater gedacht, verfallen doch auch Washington, Hawkins und Gleeson hie und da ins kalte Rezitieren; doch im Unterschied zu ihnen erhält Carvel kaum Gelegenheit, sich von einer anderen Seite zu zeigen.
Und dann wäre da noch Alex Hassell, der zum Opfer einer unausgegorenen «Macbeth»-Interpretation seitens Joel Coens wird: Er spielt Ross, einen in Shakespeares Stück zweitrangigen Fürsten, der in «The Tragedy of Macbeth» zum undurchsichtigen Doppelagenten befördert wird und sich in einem fehlgeleiteten, thematisch konfusen Epilog obendrein noch als übernatürlicher Königsmacher entpuppt. Nicht nur wird diesem erzählerischen Irrweg wertvolle Laufzeit geopfert, die stattdessen in die Figurenentwicklung von Lady Macbeth oder Banquo hätte investiert werden können; Hassells Performance ist auch zu einförmig, um diesen aufgebauschten Ross wie eine willkommene Ergänzung wirken zu lassen.
Letztlich genügen diese schauspielerischen und konzeptuellen Defizite aber nicht, um Coens ambitioniertes Soloprojekt Schiffbruch erleiden zu lassen. Zwar ist sein «Macbeth» als Adaption eher kurios als wahrlich perzeptiv – eine solide, visuell vollendete Inszenierung mit anregend irritierenden, bisweilen auch einfach befremdlichen Ecken und Kanten, deren Inhalt hauptsächlich den konventionellen Lesarten treu bleibt: menschliche Hybris, apokalyptischer Zerfall, kosmische Gerechtigkeit. Und dennoch ist es eine Freude, Denzel Washington, Kathryn Hunter und ihre Mitstreiter*innen dabei zu erleben, wie sie einige der schönsten Textstellen der ganzen englischsprachigen Literatur in Bruno Delbonnels atemberaubender Bilderwelt vortragen. Shakespeare bleibt eben Shakespeare: Es gibt gute Gründe, warum sich sein Werk bis heute gehalten hat.
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Filmfakten: «The Tragedy of Macbeth» / Regie: Joel Coen / Mit: Denzel Washington, Frances McDormand, Kathryn Hunter, Alex Hassell, Bertie Carvel, Brendan Gleeson, Corey Hawkins, Harry Melling, Stephen Root, Ralph Ineson / USA / 105 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Apple TV+
Eine Shakespeare-Offenbarung ist «The Tragedy of Macbeth» nicht. Trotzdem besticht Joel Coens erstes Soloprojekt mit grandiosen Bildern und einer Handvoll ausgezeichneter Schauspielleistungen.
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