Brendan Fraser gibt sein grosses Comeback in einem Film, der seiner Schauspielleistung zu keinem Zeitpunkt gerecht wird: Darren Aronofskys «The Whale» ist ein einfallsloses Drama, das seinem Publikum emotionale Manipulation und aufdringliches Glotzen als Empathie verkauft.
Von der Drogenhölle von «Requiem for a Dream» (2000) über die tödlichen Aufstiegsgeschichten von «The Wrestler» (2008) und «Black Swan» (2010) bis hin zu den menschlichen Abgründen biblischen Ausmasses in «Noah» (2014) und «mother!» (2017): Darren Aronofsky macht Filme, nach denen man sich schlecht fühlt.
Im Idealfall führt diese «Feelbad»-Philosophie zu spannenden, herausfordernden Werken, die konventionelle Sehgewohnheiten über den Haufen werfen und einen das behandelte Thema aus neuen Perspektiven betrachten lässt. Nicht umsonst gehören «Noah» und «mother!» zum Anregendsten, was das Bibelkino in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat.
Die Kehrseite der Medaille jedoch ist ein Film wie das zweifach oscarprämierte Kammerspiel «The Whale». Hier zelebrieren Aronofsky und Drehbuchautor Samuel D. Hunter, auf dessen gleichnamigem Theaterstück die Affiche basiert, in zwei bleiernen Stunden jene Gattung des prestigeträchtigen Filmdramas, die sich salopp als «sadistische Empathie-Maskerade» zusammenfassen lässt.
«Hier zelebrieren Aronofsky und Drehbuchautor Samuel D. Hunter in zwei bleiernen Stunden jene Gattung des prestigeträchtigen Filmdramas, die sich salopp als ‹sadistische Empathie-Maskerade› zusammenfassen lässt.»
Unter einem bewusst provokanten Titel, der vordergründig auf Herman Melvilles Meisterwerk «Moby-Dick» von 1851 anspielt, erzählen Aronofsky und Hunter von Charlie (Brendan Fraser), einem Collegedozenten für englische Literatur, der nach einem persönlichen Schicksalsschlag dem sogenannten Binge-Eating verfallen ist, inzwischen um die 300 Kilo wiegt, kaum noch ohne Hilfe vom Sofa aufstehen kann und dessen Herz – so die Meinung von Charlies einziger Freundin, der Krankenschwester Liz (Hong Chau) – jeden Moment den Geist aufgeben könnte.
«The Whale» zeigt eine besondere Woche im Leben seines Protagonisten: Denn Charlies tägliche Routine – Unterricht per Videokonferenz (mit ausgeschalteter Webcam), einsamer Konsum von Pizzas, Sandwiches, Chicken Wings und Schokoriegeln, fernsehen mit Liz – kommt nach dem unerwarteten Besuch des jungen Missionars Thomas (Ty Simpkins) plötzlich ins Trudeln. Nicht nur drängt ihn Liz dazu, sich endlich in einem Krankenhaus behandeln zu lassen; auch Thomas kehrt nach der ersten Begegnung immer wieder in Charlies Wohnung zurück, da er in diesem seltsam optimistischen Einsiedler ein vielversprechendes christliches «Projekt» gefunden zu haben scheint. Und dann schneit auch noch Charlies entfremdete Tochter Ellie (Sadie Sink) herein und verlangt, dass er ihre Highschool-Essays für sie schreibt, damit sie nicht von der Schule fliegt.
Dass Aronofsky und Hunter keinen Hehl aus den Bühnenwurzeln ihres Stoffs machen und ihn samt dramatischer und emotionaler Verkürzungen auf die Leinwand übertragen, ist nicht das grösste Problem von «The Whale». Doch es ist ein Symptom der schieren Einfallslosigkeit, die diesem Film zugrunde liegt: Er mag sich nachdrücklich als «empathisches» Porträt einer tragischen Persönlichkeit gerieren, lässt jedoch jegliches Interesse an der Menschlichkeit seiner Figuren vermissen.
So bekommt etwa Sadie Sink («Stranger Things») die undankbare Aufgabe aufgebürdet, einen stereotypen «verstörten Teenager» zu spielen, dem das Drehbuch ausser destruktiver Traurigkeit und unmotivierter Boshaftigkeit keine konkreten Charaktereigenschaften zugesteht. Dasselbe Schicksal widerfährt Hong Chau («The Menu»), deren Figur wie ein Destillat sämtlicher verzweifelt-fürsorglicher Krankenschwestern wirkt, die in den Hollywood-Dramen der letzten Jahre zu sehen waren. Ellie, Liz, Thomas und Charlies Ex-Frau Mary (Samantha Morton) – sie alle sind weniger ausgearbeitete Menschen als dramatische Chiffren, die dazu dienen, allerhand abgedroschene Klischees abzuarbeiten und dem Publikum ein Gefühl der Betroffenheit einzuprügeln.
«Am schlimmsten steht es aber um Charlie, der von Aronofsky, Hunter und Kameramann Matthew Libatique zum wandelnden Mitleidserreger degradiert wird. Immer wieder verfällt die Kamera ins faszinierte Gaffen. Visuell lässt ‹The Whale› keine Zweifel zu: Charlie ist spannend, grotesk, abstossend.»
Am schlimmsten steht es aber um Charlie, der von Aronofsky, Hunter und Kameramann Matthew Libatique zum wandelnden Mitleidserreger degradiert wird. Immer wieder verfällt die Kamera ins faszinierte Gaffen – wenn sie Brendan Frasers Fettanzug in seiner ganzen Masse in ihr enges 4:3-Bildformat presst, wenn Charlie mit nacktem Oberkörper zu sehen ist, wenn ihn eine alltägliche Aktivität ins Schwitzen bringt. Visuell lässt «The Whale» keine Zweifel zu: Charlie ist spannend, grotesk, abstossend.
Erzählerisch soll diese Darstellung wohl durch die Charakterisierung des liebevollen und sensiblen Protagonisten temperiert werden. Doch abgesehen davon, dass damit suggeriert wird, dass Charlie «trotz» seines Körperumfangs ein Mensch mit Gefühlen und Träumen ist (anstatt dieses Verständnis vorauszusetzen), lässt seine Figurenzeichnung auch so zu wünschen übrig: Zum einen wird er vom Film hauptsächlich über seine diversen Traumata definiert – und alle diese Traumata sind entweder das Resultat oder die Ursache seines übermässigen Lebensmittelkonsums –, zum anderen läuft sein dramaturgischer Bogen auf eine bizarre Ode an das Banale und Oberflächliche hinaus, auf die «Erkenntnis», dass es besser ist, sich dem Affekt hinzugeben, als überlegt zu handeln.
«Dank eines schauspielerischen Kraftakts gelingt es Brendan Fraser, gerade dank seiner expressiven Stimme, zumindest ein nennenswertes Innenleben anzudeuten. Gerettet wird ‹The Whale› davon nicht – aber er wird davor bewahrt, als komplettes Desaster in die Geschichte einzugehen.»
Insofern ist es Comeback-Star Brendan Fraser («The Mummy») hoch anzurechnen, dass er es schafft, einer dermassen rudimentär konzipierten Figur in einem derart unausgegorenen und effekthascherischen Film so etwas wie eine menschliche Komponente zu verleihen. Der Charlie aus Hunters Drehbuch mag über kein nennenswertes Innenleben verfügen – jedenfalls nicht über eines, das über die Instrumentalisierung von Trauma und körperlicher «Andersartigkeit» hinausgeht –, doch dank eines schauspielerischen Kraftakts gelingt es Fraser, gerade dank seiner expressiven Stimme, zumindest eines anzudeuten. Gerettet wird «The Whale» davon nicht – aber er wird davor bewahrt, als komplettes Desaster in die Geschichte einzugehen.
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Kinostart Deutschschweiz: 16.3.2023
Filmfakten: «The Whale» / Regie: Darren Aronofsky / Mit: Brendan Fraser, Sadie Sink, Hong Chau, Ty Simpkins, Samantha Morton / USA / 117 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Pathé Films Schweiz / A24
Brendan Fraser spielt gut, aber der Film, der ihn umgibt, hält nicht mit. «The Whale» von Darren Aronofsky ist ein manipulatives, klischeehaftes, emotional hohles Drama von der übelsten Sorte.
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