Die Gesellschaft erwartet generell, dass man spätestens mit den runden 30 sein Leben mit festen Zielen und Plänen im Griff hat. Dass das nicht immer so einfach ist, erzählt Joachim Trier in «The Worst Person in the World», der Geschichte von Julie, die von Studium bis Kinderkriegen vor allem eines ist: unentschlossen.
Julie (Renate Reinsve) beginnt ihr Medizinstudium mit der festen Überzeugung, jetzt Teil der Elite zu sein – immerhin hat sie sich vor allem dafür entschieden, weil dort «ihre guten Noten endlich wirklich eine Rolle spielen». Bald merkt sie aber, dass ihr die Medizin «zu viel Handwerk» ist; sie will sich mit dem Geist beschäftigen, nicht mit dem Körper. Also wechselt sie zur Psychologie und beginnt mit neuem Kleiderstil und gefärbten Haaren ihr neues Studium. Aber auch dort hält sie es nicht lange, Kunst soll es nun sein, Fotografie vielleicht?
Die einzigen Konstanten, für die sie sich schliesslich für Erste entscheiden kann, sind der rund zehn Jahre ältere Comiczeichner Aksel (Anders Danielsen Lie) und ein Teilzeitjob in einer Buchhandlung. Sie zieht in Aksels Wohnung, bekommt dort nur eines von vielen Bücherregalen für ihre Bücher zugestanden und arbeitet am Küchentisch, während er sein Zeichnungspult hat. «Ich fühle mich wie eine Zuschauerin in meinem eigenen Leben», wird sie ihm später sagen. Er wird sagen: «Wenn ich etwas bereue, dann, dass ich dir nie klar machen konnte, was für eine tolle Frau du bist.»
Regisseur Joachim Trier («Oslo, August 31st», «Thelma») und Co-Autor Eskil Vogt zeichnen ihre Figuren nicht in Schwarz und Weiss. Julies Beziehung mit Aksel ist kaum das optimale Umfeld für sie, um sich endlich selbst finden zu können, aber Julies innere Unentschlossenheit bleibt das Hauptproblem, mit dem sie sich am Ende selbst zurechtfinden muss.
«Es sind Aussagen, die Trier den Zuschauer*innen aber nicht in ausgesprochenen Sätzen vorkaut, sondern stattdessen geschickt in seine raffiniert aufgebauten Szenen voller scharfer Dialoge einbaut. Dabei erfasst er auch den Humor, der ebenso Teil des Lebens ist wie Menschen mit Fehlern und Schwächen.»
Es sind Aussagen, die Trier den Zuschauer*innen aber nicht in ausgesprochenen Sätzen vorkaut, sondern stattdessen geschickt in seine raffiniert aufgebauten Szenen voller scharfer Dialoge einbaut. Dabei erfasst er auch den Humor, der ebenso Teil des Lebens ist wie Menschen mit Fehlern und Schwächen. Daraus entstehen grandiose Szenen wie etwa jene, in der die Ex-Freundin einer Liebschaft von Julie nach einer «Erleuchtung» in den Ferien das nachhaltig korrekte Einkaufen derart auf die Spitze treibt, dass es für ihren Partner zum Spiessrutenlauf wird.
Aufgeteilt in zwölf Kapitel, gibt «The Worst Person in the World» Einblick in verschiedenste Phase von Julies Selbstsuche. So kommt das Thema Kinderkriegen etwa zur Sprache, als Aksel nach einem Besuch bei einer befreundeten Familie findet, er und Julie könnten doch jetzt auch mal eine Familie gründen. Dafür noch gar nicht bereit, stolpert Julie stattdessen später uneingeladen an eine Hochzeitsparty, wo sie auf Eivind (Herbert Nordrum) trifft und mit ihm in einer wunderbaren Sequenz mit Handlungen wie «Achseln riechen» und «sich beim Pinkeln zusehen» testet, ab wann etwas als Untreue gilt.
Selten versucht sich Trier gar am Surrealen, etwa wenn Julie die Zeit anhält und einen unbeschwerten Tag mit ihrer aktuellen Liebschaft verbringt, ohne dass sie sich für einmal für etwas entscheiden oder rechtfertigen muss. Diese Mischung von Elementen und Stimmungslagen verlangt Hauptdarstellerin Renate Reinsve einiges ab – eine Herausforderung, der sie absolut gewachsen ist. Julies Weigerung, Dinge in die Hand zu nehmen, lässt sie nicht immer im besten Licht dastehen, aber Reinsves charismatisches Schauspiel hält die Sympathien fest auf der Seite der Protagonistin.
«Diese Mischung von Elementen und Stimmungslagen verlangt Hauptdarstellerin Renate Reinsve einiges ab – eine Herausforderung, der sie absolut gewachsen ist. Julies Weigerung, Dinge in die Hand zu nehmen, lässt sie nicht immer im besten Licht dastehen, aber Reinsves charismatisches Schauspiel hält die Sympathien fest auf der Seite der Protagonistin.»
«Eine romantische Komödie, die keine ist», wurde «The Worst Person in the World» schon genannt, und das stimmt insofern, als der Film die üblichen Muster dieses Genres links liegen lässt. Vor allem aber ist Trier damit eine Selbstfindungsgeschichte gelungen, in der die Beziehungen der Hauptfigur eine wichtige Rolle spielen, weil sie selbst viel zu lange versucht, sich über andere Personen zu finden, bis sie endlich an ihre eigene Stärke glaubt.
Über «The Worst Person in the World» wird auch in Folge 39 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 20.1.2022
Filmfakten: «The Worst Person in the World» («Verdens verste menneske») / Regie: Joachim Trier / Mit: Renate Reinsve, Anders Danielsen Lie, Herbert Nordrum, Hans Olav Brenner, Helene Bjørneby / Norwegen, Frankreich, Dänemark, Schweden / 121 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Frenetic Films
«The Worst Person in the World» erzählt, voller scharfer Dialoge und weitab gängiger Klischees, eine humorvolle Geschichte über das Gefühl, mit 30 den eigenen Weg noch nicht gefunden zu haben.
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